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Bitter Sweet Symphony

Dominik Rose

Nr 133 | Januar 2011

«Das Leben», so klagte vor einigen Jahren schon die britische Rockband The Verve, «ist eine bittersüße Symphonie». Gut möglich, dass dieser Aphorismus auch Mike Leigh durch den Kopf spukte, als er seinen neuen Film Another Year drehte, denn die episodische Alltagschronik aus dem Leben eines älteren Ehe­paares ist ebenso schmerzhaft wie schön geraten.
Im Zentrum der sich über den Zeitraum eines Jahres erstreckenden Geschichte begegnen wir Tom (Jim Broadbent) und Gerri (Ruth Sheen), beide um die sechzig und seit vielen Jahren glücklich miteinander verheiratet. Tom arbeitet als Geologe, Gerri ist als Therapeutin beim Gesundheitsamt beschäftigt. Die beiden leben am Stadtrand von London, lieben es gemeinsam zu gärtnern und am Abend Freunde zu empfangen. Und hier kommen auch schon die Probleme ins Haus, denn so harmonisch ihr eigenes Leben auch verlaufen mag, manche ihrer Freunde sind wahre Nervenbündel und -sägen.
So etwa Gerris chaotische Arbeitskollegin Mary (Lesley Manville), die schwer unter ihrem fortschreitenden Alter leidet und den Frust über ihr unfreiwilliges Single-Dasein gern mit reichlich Alkohol herunterspült. Um Ken (Peter Wight), einen alten Jugendfreund von Tom, stehen die Dinge ebenfalls schlecht, da er den Spaß an seinem Leben verloren hat und die innere Leere mit unmäßigen Fressattacken zu kompensieren versucht. Auch Toms Bruder Ronnie (David Bradley) ist eine dieser verloren wirkenden Gestalten, paralysiert vom Tod seiner Frau und zu allem Übel mit einem neurotisch feindseligen Sohn geschlagen …
Hinter den einzelnen Figuren verbergen sich zwar leidvolle Schicksale, doch der Film bewahrt sich durchgängig einen optimistischen Ton, der das Unglück nicht ausspart, aber den Blick auf den größeren Zusammenhang richtet. Tragik und Komik liegen oft dicht beieinander, etwa wenn die unglückselige Mary sich ausgerechnet in Joe verguckt, den dreißigjährigen Sohn von Tom und Gerri. Auf einer sommerlichen Gartenparty kommt es zu einer verzweifelt komischen Szene, in der die angesäuselte Mary ihrem jungen, etwas perplexen Schwarm Avancen macht, ohne offen mit der Sprache heraus zu wollen. Die Mühe ist ohnedies vergebens, denn einige Monate später trifft sie Joe in Begleitung seiner neuen Freundin an, der grotesk vergnügten Katie. Dieses zufällige Aufeinandertreffen im Haus ihrer Freunde gerät zu einem Paradestück an peinlicher Beklemmung und verdeckter Feindseligkeit.
Another Year ist vor allem ein Meisterstück an pointierten Dialogen und einem großartig aufgelegten Schauspiel-Ensemble, aus dem vielleicht Lesley Manville als verzweifelte Exzentrikerin herausragt. Die Figuren fühlen sich bis in die kleinen Nebenrollen hinein authentisch und lebensnah an, was ohnehin eine Stärke von Mike Leighs Filmen ist, der sich auch diesmal einer sentimentalen Botschaft verweigert und den bisweilen indifferenten Charakter des Lebens in seiner Komplexität bestehen lässt.
Den vier Jahrszeiten kommt hierbei eine besondere Bedeutung zu, da sie nicht nur die Geschichte in vier Abschnitte gliedern, sondern weil jede einzelne von ihnen in Verbindung zu dem steht, was sich dramaturgisch ereignet. Das Fortschreiten der Zeit mag ein schmerzhafter Prozess sein, ihm wohnt im Kreislauf der Natur jedoch eine Ordnung inne, mit der Tom und Gerri als Hauptfiguren in Harmonie leben. Die Möglichkeit, ein glück­liches Leben zu führen – und zugleich das Scheitern daran, ist das zentrale Thema des Films.