Maria A. Kafitz

Die tausend Inseln der starken Männer

Nr 135 | März 2011

Es gibt sie, diese Tage, da scheint nichts, rein gar nichts zu gelingen. Schwer sind sie. Trüb. Meist auch noch von unerfüllbaren Wünschen oder maßlosen Forderungen anderer angehäuft und zugeschüttet. Wer an solchen Tagen die Chance hat, das Haus nicht verlassen zu müssen oder schnellstmöglich dahin zurückkehren zu können, der nutze sie – umgehend und ohne großes Zögern. Vielleicht gelingt dann im Alleinsein dieses kleine große Wunder, das Franz Kafka einmal in seinen Zürauer Aphorismen beschrieben hat: «Es ist nicht notwendig, dass du aus dem Haus gehst. Bleib bei deinem Tisch und horche. Horche nicht einmal, warte nur. Warte nicht einmal, sei völlig still und allein. Anbieten wird sich dir die Welt zur Entlarvung, sie kann nicht anders, verzückt wird sie sich vor dir winden.» Welch tröstlicher Gedanke, gar eine Verheißung – nicht nur an jenen Tagen.
Im bekannten Terrain kann diese Verheißung eine Rettung sein – im Alltag, dem wir nur allzu selten entkommen. Machen wir uns jedoch auf den Weg, sind unterwegs und offen für den Zauber anderer Regionen, dann können wir an Orte gelangen, deren bloße Schönheit die trübsten Gedanken aufzuhellen, die schwersten Stimmungen leichter zu machen vermag. Vorausgesetzt natürlich, wir machen die Augen und das Herz auf und stehen uns nicht mit Nebensächlichkeiten wie der Härte des Hotelbetts, der Auswahl am Frühstücksbuffet oder dem ewigen Gezeter übers Wetter selbst im Weg. Wer sich besonders mit Letzterem ungebührlich lange und sinnlos – denn keiner hat einen direkten Draht zum alten Petrus – die Zeit vertreibt, der wird die ungezählten Inseln an Schottlands Nordwestküste wohl nie auf seine Reiseroute setzen. Welch Erlebnis- und Eindrucksverlust! Zumindest für jene, denen der Wind auch mal ordentlich die Haare zerwühlen darf und die dem Regen das Auffinden der immer irgendwo vorhandenen undichten Stellen der Kleidung vergeben können.

Ein wahres Kleinod dieser zerklüfteten Küstenregion, der sogenannten «Inneren Hebriden», ist Staffa, die «Insel der Säulen», in welche die Gezeiten für den Riesen Fingal eine sagenumwobene Höhle getrieben haben sollen.
Vor rund 60 Millionen Jahren wuchs dieses nur ca. 200 x 600 Meter große und lediglich von zahlreichen Seevögeln bewohnte Eiland vermutlich durch eine unterirdische Explosion als geometrisches Meisterwerk vom Boden des Atlantischen Ozeans empor: Sechseckige Basaltsäulen stiegen in meterhohen Bögen und Schwüngen aus den Fluten – blieben vereinzelt, bildeten Paare, bündelten sich schließlich zu Gemeinschaften. Die Zeit nahm ihren unaufhaltsamen Lauf und übers Meer trug der immerwährende Wind dieser Region Sand und Samen. Die Säulen bekamen ein lebendiges Dach, eine grünende Haube, und Staffa so jene Form, die gerne auf den britischen Inseln gegen fünf Uhr nachmittags als köstlicher Muffin oder quietschbunter Cupcake zum Tee gereicht wird.
Wer einen schwachen, gar einen sensiblen Magen hat, sollte jedoch diese süßen Verlockungen vielleicht meiden, wenn die Bootsfahrt zu den Säulen, die sich am Meeresgrund bis zum Giant’s Causeway in Nordirland weiterziehen, noch bevorsteht. Wild kann der Atlantik sein – ungezähmt, aufbrausend. Und da die kleinen Boote, die nach Staffa schippern, meist ohne Überdachung auskommen, kann es beim Tanz auf den Wellen ganz unvermittelt ziemlich nass werden. «Wir empfehlen unseren Gästen auch im Sommer warme Kleidung. Zudem Regenjacken mit Kapuze, möglichst auch entsprechende Hosen und Gummistiefel.» So – oder zumindest so ähnlich – lauten die gut- und ernstgemeinten Hinweise der Reiseanbieter. Auf eigene Faust darf Staffa, unter dem Schutz des National Trust for Scotland stehend, ohnehin nicht angesteuert werden.
Wer nicht wagemutig oder trotzig sein will, packt sich also in diverse Pullover- und Gummischichten ein und tut meist gut daran. Ein ungeahntes Gefühl der Beruhigung und Befreiung steigt empor, wenn der alte Petrus plötzlich doch zeigt, was er kann – wenn nämlich das kleine Boot die an Naturwundern reiche Insel Mull verlässt, Kurs auf Staffa nimmt und bei jedem zurückgelegten Meter die Wolken weiter aufreißen, die wogende See ruhiger und die Sonne strahlender wird. Die eigene Temperatur steigt hierbei natürlich nicht nur innerlich mit. Das Pellen aus der Kleiderzwiebel auf immer noch spürbar schwankendem Grund kann so unverhofft zur Gleichgewichtsübung mit belustigten Zuschauern werden. Eine gewisse Form von Zivilisationsscham bezüglich dieser «Wir-trotzen-Wind-und-Wetter-Ausrüstung» schleicht sich ins Herz, wenn einem bewusst wird, dass diese Insel schon Felix Mendelssohn Bartholdy zu seiner Hebriden-Ouvertüre inspirierte, Theodor Fontane darüber in Schwärmereien verfiel oder der von den Kunstmusen mehrfach geküsste William Turner dort zum Dahinschmelzen schöne Bilder schuf – ohne Regenschutz, ohne Außenbordmotor, ohne Rettungsring. Nicht jeder ist zum sorglosen Bootstanz auf diesem Element geboren.
Wo zuvor Scham war, da wächst beim Verlassen von Staffa, beim Blick zurück auf die Säulen im Meer Wehmut. Doch das Herz wird wenig später bereits von einem anderen Zauber erfüllt: Die Insel Iona – meist die dritte Station dieser kleinen Inseltour – ist nicht nur ein malerischer Flecken Erde, sie bildete auch über Jahrhunderte das geistliche Zentrum Schottlands. Schon im Jahr 563 landete dort Columban mit zwölf Männern aus Irland und gründete jenes Kloster, das zur Wiege der sogenannten «Keltischen Kirche» wurde. Auch die weltlichen Herrscher erkoren diesen Ort zu ihrem – manch einer zu seinem letzten: Schottisch-irische und norwegische Könige sollen auf dem Friedhof Reilig Odhráin bestattet sein, so beispielsweise kein Geringerer als jener aus Shakespeares gleichnamigem Drama Macbeth – angeblich Seit an Seit mit Duncan, seinem Widersacher. Ob sie sich dadurch doch noch versöhnten? Das bleibt der Fantasie überlassen – wie auch der konkrete Platz der Gräber, da eine puritanische Gruppe im Auftrag des Reformators John Knox die Grabkreuze ins tosende Meer warf und mit diesen die Gewissheit, über wessen sterbliche Überreste jener «Helden» die Zeit ihren Schleier des Vergessens legt.

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Fotos: © Sebastian Hoch

Die Helden der Neuzeit haben vermutlich ein schnelleres «Verfallsdatum», wenngleich sie sich bei ihren meist unblutigen Wettkämpfen dem Jubel ihrer Bewunderer dennoch sicher sein können. Ach, diese «starken Helden» … Kaum einer (wohl auch kaum eine) beginnt nicht unwillkürlich innerlich Bilder von großen, breitschultrigen, muskelbepackten, mutigen und tapferen Hünen zu sehen, wenn der Begriff «Highland Game» Auge oder Ohr passiert hat. Dass diese Bilder sich an der Realität brechen können, hat nichts Tragisches, nichts Enttäuschendes, denn die Atmosphäre während dieser zutiefst schottischen Stunden auf irgendeinem Feld im Nirgendwo entschädigt meist für alles – und der ein oder andere Augenschmaus ist außerdem immer zu finden, und sei es unter den Zuschauern.
In Schottland – und mittlerweile weltweit überall dort, wo Schotten ansässig wurden – gibt es jährlich bis zu 100 Highland Games. Der wohl bekannteste Wettstreit findet Anfang September in Braemar statt und steht unter der Schirmherrschaft von Königin Elisabeth II., deren traditioneller Sommersitz sich im nahe gelegenen Balmoral Castle – es gibt bei Leibe schlimmere Orte, an denen Zeit verbracht werden kann – befindet. Diese offiziellste Version der Gatherings hat allen Pomp und reichlich Gloria zu bieten. Richtig hautnah und unmittelbar geht es dagegen auf den kleineren Highland Games zu. Hier wird Pomp durch improvisierte Hingabe und Gloria durch Inbrunst ersetzt. Hier kommt man (und frau) so nah an die Wettkämpfer und ihre Bewunderer heran, dass der Matsch der aufgeweichten Wiesen der eigenen Kleidung ein neues Muster verleiht. Oft gehören diese Wiesen zuvor übrigens ganz anderen Schönheiten, deren Anblick jede breite Schulter über einem wie auch immer karierten Kilt in den Schatten stellt: den Highland Cattle, jenen schwarz- oder rothaarigen «Zottel­rindern» mit den weit ausladenden Hörnern, die zu den ältesten Rinderrassen der Welt gehören. Wer sich hier nicht spontan verliebt und vorerst nichts anderes als diesen Anblick braucht, muss eben zurück zu den berockten Recken und ihren manchmal etwas absonderlich wirkenden Wett­kampfdisziplinen.
Rund dreißig Einzeldisziplinen gibt es, die in verschiedene Haupt­kategorien unterteilt sind, darunter Running (Lauf- und Gehwettbewerbe – gerne diverse Hügel rauf und wieder andernorts runter), Tug-o-War (Seil-/Tauziehen – eine nicht zu überquerende Linie kann hierbei die Welt bedeuten), Wrestling (Ringen – je wilder, je lieber), Solo Piping (Einzelvortrag mit Dudelsack – schon die Kleinsten beweisen ihr klingendes Können), Pipe Band Contest (Bandwettbewerb mit liebevoll inszenierten Formationen), Highland Dancing (Tanzwettbewerb – nicht nur hier mischen Frauen mit und auf!) und als Krönung die Heavy-Weights bzw. Heavy-Events (nun kommen die «starken Helden» zum Zug). Bei Letzteren geht es ans Eingemachte, denn es geht u. a. darum, einen bis zu sechs Meter langen und rund 60 kg schweren Baumstamm durch die Luft zu werfen. Beim Tossing the Caber ist es jedoch unerheblich, wie weit der Stamm fliegt, vielmehr zählt Art und Winkel des Überschlages – Kraft allein besiegt Schönheit auch hier nicht. Neben diesem unmittelbar archaisch anmutenden Part warten auf die «starken Helden» auch leichtathletischere Disziplinen: eine Art des Hammerwurfes (Weight For Distance, Gewicht 25 kg), der Gewichthochwurf über eine Latte (Weight For Height, Gewicht 25 kg), das Steinewuchten (Putting The Stone, Gewicht 10 kg), das Gehen mit Gewichten (Farmer’s Walk, Gewicht pro Seite 70 kg), der Heusackweitwurf (Sheaf Toss) oder ab und an auch eine «delikate Weitwurfvariante» (Haggis-Hurling – manche sagen ohnehin, allen Respekt vor Nahrungsmitteln vergessend: besser man wirft diese schottische Nationalspeise möglichst weit weg, als sie zu essen).
Viel Lärm, viel Kraftmeierei natürlich auch und noch mehr Vergnügen strömt nach den feucht-fröhlichen Wettkämpfen mit den schottischen Winden hinaus zu den unzähligen Inseln entlang der Küste. Die Sieger werden ausgiebig und inbrünstig gefeiert. Wirkliche Verlierer scheint es dennoch nicht zu geben – außer vielleicht jenen, die an diesem Tag nicht dabei waren, die allein
zu Hause an ihrem Tisch saßen oder Schottland nicht bereisten,
weil es dort angeblich ohnehin immer nur regnet.