Hilal Sezgin im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Zwischen Facebook & Schafherde

Nr 137 | Mai 2011

Auch wenn das Gespräch in einem Frankfurter Café stattfindet, versprüht Hilal Sezgin Begeisterung über ihr «Landleben» (so der Titel ihres gleichnamigen neuen Buches). Seit vier Jahren lebt und arbeitet sie in einem kleinen Dorf in der Lüneburger Heide – gemeinsam mit ländlichen Nachbarn und Tieren. Und stellt fest, dass sie dabei «stärker und gelenkiger geworden ist, in körperlicher wie in seelischer Hinsicht». Aber die Tochter der Islamwissenschaftler Fuat und Ursula Sezgin mit deutscher und türkischer Staatsbürgerschaft, die vorher immer in der Stadt gelebt hat, Philosophie, Soziologie und Germanistik studierte und eine erfolgreiche Journalistin und Buchautorin ist, denkt auch über Leid und Glück, Tod und Ethik nach. Dank Internet ist Hilal Sezgin nicht isoliert von der Welt, nutzt etwa Facebook zur Diskussion. Ihre Bücher «Typisch Türkin» und «Mihriban pfeift auf Gott» zeigen sie als vielseitige und oft humorvolle Autorin, ihre Beiträge zum Thema Islam und Integration bieten in der aktuellen Debatte Orientierung.

Doris Kleinau-Metzler | Es ist ungewöhnlich, dass jemand mit Mitte dreißig seine gute Stelle kündigt und aus Frankfurt allein in ein Dorf in der Lüneburger Heide zieht. Was war Ihr Grund, Frau Sezgin?

Hilal Sezgin | In der Stadt habe ich immer einiges vermisst, besonders das Leben mit den Jahreszeiten, die Gerüche, den freien Blick in die Landschaft und vor allem Tiere. Hier draußen schaue ich statt auf Häuserwände und Werbetafeln auf den Wald oder den freien Himmel.

DKM | 500 Menschen leben in Ihrem Ort. Sie kannten vorher keinen davon. Hatten Sie nicht Angst vor einer gewissen Einsamkeit?

HS | Aber im Dorf ist man ja gar nicht einsam! Während man in der Stadt wie auf seiner kleinen Insel lebt, sich stets mit denselben Leuten an demselben Ort trifft, aber an Hunderten vorbeigeht, hat man auf dem Dorf Freunde und Bekannte aus ganz anderen Kreisen und Berufen, mit unterschiedlichen Interessen, die man sonst nie kennengelernt hätte. Sicher gibt es Dörfer, aus denen Menschen wegziehen, weil sie keine Arbeit finden, aber zu dem Dorf, in dem ich lebe, passt der Satz einer Freundin: Man merkt, dass die Leute hier zusammen alt werden wollen. Wenn man offen ist und sich einbringt, Unterschiede akzeptiert, gibt es hier so viele Möglichkeiten des Soziallebens, die ich in der Stadt nie erlebte – das reicht vom Ausborgen des Einkochapparats für das ganze Dorf, über spontane Feste bis zur schnellen Hilfe für einen Hühnerstall. Außerdem gibt es Internet und Facebook ja auch hier.

DKM | Sie haben eigene Tiere. Was ist der Grund für ihre große Tierliebe?

HS | Nachbarn haben mir die Tiere geschenkt oder überlassen. Inzwischen sind es 39 Schafe, dazu kommen noch vier Ziegen, zwei Gänse und zehn Hühner, die nach dem Abtransport zum Schlachten in einer großen Bio-Legefarm übriggeblieben sind und die ich jedes Jahr abhole. Meine Familie war immer tierlieb, und Tierliebe ist für mich etwas völlig Normales, jedes Kind mag ja Tiere. Zu sehen, wie Tiere leben, sie zu füttern und ihre jeweiligen Eigenarten kennenzulernen ist etwas sehr Wesentliches. Meine Schafe sind nicht eingesperrt, sondern grasen vor dem Haus, manchmal hüpfen sie einfach so auf der Weide herum. Alle, die mich besuchen kommen, schauen sich das gern vom Fenster aus an – das ist ein bisschen wie aufs Meer zu schauen.

DKM | Was sagen die Bauern im Dorf zu Ihrer Art der Tierhaltung?

HS | Bauern in dem Sinne, wie wir uns das oft vorstellen, gibt es kaum noch. Alles ist zentralisiert und spezialisiert, und statt kleiner Höfe wird alles in großem Maßstab betrieben. Die Menschen, die jetzt in der Landwirtschaft arbeiten, oder ehemalige Bauern finden sicher manches ulkig, wie ich es mache, auch dass ich kein Tier schlachte. Aber sie respektieren es und helfen mir, wenn es nötig ist. Und viele freuen sich, dass es überhaupt wieder mehr Tiere im Dorf gibt, denn heute sind Schweine und Kühe ja normalerweise in riesigen Anlagen hinter den Mauern verborgen. Als ich kleine Lämmer hatte, sind so viele Leute gekommen, um sich das anzuschauen – und viele hatten noch nie Hühner gesehen, die frei herumlaufen und scharren, wo sie wollen. Dann wird manchmal erzählt, wie es früher war, als man die Tiere zwar genutzt, aber trotzdem in ihrer Eigenart gelassen hat. So wie wir jetzt Tiere nutzen, ist es falsch und schrecklich.

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Fotos: © Helen Macfarlane

DKM | Was meinen Sie damit? Es gibt doch ein Tierschutzgesetz.

HS | Weil die Nutzung von Tieren nur am Gewinn orientiert ist, werden Tiere bereits so gezüchtet, dass sie als Folge der Nutzenoptimierung schlimme Schmerzen haben: Schweine haben Skelettschmerzen, weil sie ihre große Muskelmasse kaum mehr tragen können, Kühe haben Euterentzündungen, Masthühner leiden Qualen, weil sie nur auf Fleisch gezüchtet werden und auch nicht mehr auf ihre Stangen auffliegen können, Hühner legen wie kleine Maschinen und haben nach einiger Zeit oft chronische schmerzhafte Legeentzündung. Das Tierschutzgesetz orientiert sich letztlich an den wirtschaftlichen Interessen – so gibt es zahlreiche Ausnahmegenehmigungen, zum Beispiel über ohne Betäubung durchgeführte Maßnahmen wie Kastration und Abschneiden der Schwänzchen bei Schweinen. Dazu kommen ja noch der quälende, angstvolle Transport zum Schlachthof und das oft unsachgemäße Schlachten dort. Es gibt heute nur vereinzelt Tierhaltung, die für mich akzeptabel ist.

DKM | Inzwischen leben Sie vegan, das heißt, Sie essen kein Fleisch und kein Fisch und vermeiden auch tierische Produkte wie Milch und Eier. Ist das vor allem eine gefühlsmäßige Entscheidung?

HS | Für mich treffen bei dem Thema Ernährung Gefühl und Ver­stand zusammen. Sicher erlebe ich das Leben mit Tieren als Bereicherung, aber es gibt auch gute philosophische und soziale Gründe, keine Tiere zu essen. Ich weiß, dass viele Menschen meine Überzeugung nicht in allem teilen, aber dennoch einiges bei der Tierhaltung anders wollen, als es bisher üblich ist. Deshalb setze ich viel Hoffnung in die Verbraucher, damit mehr Druck aufgebaut wird und die Politik veranlasst wird, Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Tieren einzuführen. Vielleicht bin ich auch empfindlicher als andere; ich versuche jedes Tier, das ich aufnehme, aufzupäppeln, was bei den Hühnern in den ersten Wochen mit viel Arbeit verbunden ist, denn sie haben oft keine Federn mehr und müssen erst ihre eigene Hackordnung finden. Als ich aufs Land ge­zogen bin, wollte ich einfach in der Natur sein und mir die Tiere von anderen Leuten anschauen. Aber es hat sich anders ergeben.

DKM | Damit haben Sie eine Lebensaufgabe übernommen. Aber Sie messen Leben nicht hauptsächlich an Erfolgen: In einem Interview sprachen Sie vom «Recht auf Scheitern». Was meinen Sie damit?

HS | Man tendiert dazu, seine Lebensgeschichte zu schönen: Aus jeder Entscheidung ist dann etwas Gutes geworden, alle Probleme scheinen gelöst; über die schwierigen Zeiten wird nicht mehr ge­redet. Durch so ein Ideal setzt man sich gegenseitig unter Druck, unter Erfolgsdruck. Doch es ist nicht immer möglich, erfolgreich zu sein in einem Sinn, wie es andere anerkennen. Dieses «Recht auf Scheitern» war mir auch bei meinem Buch über Lebensgeschichten türkisch-stämmiger Frauen wichtig, Typisch Türkin? Nicht jede Lebensgeschichte muss eine glanzvolle Erfolgsstory sein, entscheidend ist, wie die Frauen sich als Individuen erleben, als Menschen, die ihr Leben selbst gestalten aufgrund ihrer eigenen Rahmen­bedingungen. Diese vielschichtigen individuellen Bemühungen sollten mehr respektiert werden.

DKM | Ein anderer Bereich, mit dem Sie sich als Autorin immer wieder auseinandersetzen, ist der Islam. Obwohl Religion im Alltag der meisten Menschen kaum eine Rolle spielt, steht das Thema Isalm im Mittelpunkt der öffentlichen Diskussion.

HS | Nun, mir scheint das momentan etwas künstlich aufgebläht, wenn andauernd über christliche Werte und den Islam als schein­bares Gegenstück geredet wird. Ich meine, dass unsere Moral und unsere demokratischen Werte auch ohne Religion denkbar wären. Trotzdem gibt es natürlich in unserer Gesellschaft viele Menschen, für die ihr Glaube zentral ist, und für mich persönlich hat Religion, der Islam, eine Bedeutung, weil ich religiös erzogen wurde. Während des Studiums war ich weniger religiös, später wieder mehr. Problematisch ist aber, dass man inzwischen als Muslim durch die öffentliche Diskussion in Form von Schlagworten und Extremen quasi ständig gezwungen wird, sich damit zu beschäftigen, sich zu rechtfertigen, warum andere dies und jenes dazu tun oder sagen. Die Frage, was meinst du zum Kopftuch, begegnet mir auf jeder Party. Aber Religion ist für mich nur ein Teil des Lebens, es gibt noch so viele andere Themen: Man hat einen Beruf, hat Eltern und Freunde, erfüllt verschiedene Funktionen, geht Interessen nach. All das be­stimmt mein Verhältnis zu anderen Menschen, nicht allein eine Religion, die von außen in populären Medien zudem oft zu Unrecht als starr und vorgestrig dargestellt wird.

DKM | Was sind für Sie die Grundlagen des Islam? In einem Radio­beitrag mit der Überschrift «Liberal im Islam» sprechen Sie von den fünf Säulen des Islam, die in der Praxis durchaus unterschiedlich gehandhabt werden.

HS | Der Islam ist nicht wie eine Kirche, in die man eintritt, sondern grundlegend ist das Glaubens­bekenntnis zu dem einen einzigen Gott und dazu, dass Mohammed sein Prophet ist. Ähnlich wie im Judentum spielen im Islam die praktischen Riten eine große Rolle. Dazu gehört das Sprechen des Glaubensbekenntnisses, fünfmal am Tag zu beten, das Fasten, die Pilgerfahrt und das Almosengeben. Wie das jeder einzelne Gläubige umsetzt, ist unterschiedlich: Es gibt die traditionelle Form, wie es früher gemacht wurde, heute wird jedoch auch darüber diskutiert. Genau wie Katholiken sich nicht bei allen Einzelthemen an dem orientieren, was von Dogma und Papst gesagt wird, bin ich auch nicht mit allen Aussagen, die im traditionellen Islam verkündet werden, einer Meinung – zum Beispiel bei der Ablehnung der Homosexualität. Entscheidend ist meiner Meinung nach, dass die Menschen bei Liebe und Sexualität verantwortlich miteinander umgehen.

DKM | Verantwortlich für den Mitmenschen zu sein scheint eine sinnvolle gemeinsame Orientierung. Sie sprechen auch von der Erfahrung der Islamfeindlichkeit.

HS | Das ist nicht nur mein persönlicher Eindruck, sondern die Medienwissenschaft bestätigt, dass das Thema Islam in der Öffentlichkeit vor allem unter negativen Vorzeichen angesprochen wird: So wird der Verdacht geäußert, der Islam passe nicht zu einer demokratischen Regierungsform, zu den allgemeinen Menschenrechten oder zur Emanzipation der Frauen. Man suggeriert, Deutschland werde vom Islam überrollt – was nicht wahr ist. Das ist für mich eine neue Form der Ausländerfeindlichkeit, die sich gegen Muslime richtet und mit pauschalen Unterstellungen, Vorwürfen und Zuspitzungen arbeitet. Wenn Menschen sich begegnen, zum Beispiel im Kindergarten ihrer Kinder, haben sie dann die Medienschlagzeilen im Hinterkopf und sind verunsichert, wie sie miteinander umgehen können. Dabei gibt es so viel mehr Gemeinsames, was uns verbindet – und bei den Gemeinsamkeiten und nicht bei den Unterschieden sollten wir im Umgang miteinander anfangen.