Ralf Lilienthal

Es geht auch anders

Nr 137 | Mai 2011

Die Troxler-Werkstätten

Wuppertal Barmen, Donnerstag, am Morgen kurz vor Sechs. Torsten M. sitzt dösend im Bus der Linie 635. Vor sich eine stabile Ledertasche, die er mit festem Griff an sich zieht. An der Haltestelle Grunerstraße steigt er aus, läuft die dreihundert Meter, die ihn von seinem Arbeitsplatz trennen, und scheint dabei mit jedem Schritt schneller zu werden. Torsten M. ist Bäcker. Und behindert. Worüber noch zu sprechen sein wird.

Schön ist der Gebäudekomplex nicht. Gewerbearchitektur, zwecknüchtern, ein wenig schmuddelig – alles andere als ein Wohlfühlort. Der Reporter befindet sich in der Hofeinfahrt der Troxler-Haus Sozialtherapeutische Werkstätten gGmbH, sucht den Eingang und findet hinter der ersten Tür, die sich als Durchgang zur Wäscherei herausstellt, sieben Augenpaare, die ihn mehr oder weniger intensiv fixieren.
‹Man› kennt das. ‹Diese› Menschen ‹sind so›. Ohne Distanz. Aufdringlich. Jetzt kommt ein junger Mann näher, stellt sich neben den Reporter und ergreift dessen Hand. «Wer bist du?» – «Äh, ich bin … ich schreibe für die Zeitung …» Die Antwort ist ein freudiges Lachen. Aufgelöst wird die Situation durch eine junge Frau vom ‹Fachpersonal›, auch wenn diese Unterscheidung von den ‹Mitarbeitern›, also den hier arbeitenden etwa 450 Menschen mit Betreuungsbedarf und den ca. 75 Sozialtherapeuten, Werkstatt­leitern, Verwaltungsmitarbeitern etc. zu diesem Zeitpunkt noch nicht erklärt wurde.
Erklärungen gibt es in den nächsten zwei Tagen allerdings reichlich. Schließlich blickt das Troxler-Haus Wuppertal just in diesem Jahr auf eine immerhin fünfzigjährige Geschichte zurück, in der sich zu den Werkstätten unter anderem ein integrativer Waldorf­kindergarten, eine heilpädagogische Waldorfschule, Wohnhäuser, ein Wohnheim für ältere Menschen und ein biologisch-dynamisch bewirtschafteter Bauernhof dazugesellt haben.
Wer bei einer ‹Werkstatt für behinderte Menschen› die Assoziation von ‹Beschäftigungstherapie› hat, sollte sich einmal für ein paar Stunden im Troxler-Montagebereich oder in einer der anderen 17 Werkstätten als stiller Beobachter dazugesellen. Und genau hingucken! Denn obwohl etwa in der Montage­gruppe 2 mancher Mitarbeiter überallhin, nur nicht auf die vor ihm liegenden, spaghettifarbenen Gummiringe sieht, obwohl im Laufe des Tages mancher Kopf schwer und schwerer wird und obwohl Gespräche, Ausrufe und Lachen den Raum erfüllen, wird hier dennoch systematisch und erfolgreich gearbeitet.
Sabine Werner, Erzieherin und Schreinermeisterin, verantwortet den Montagebereich: «Gerade werden Büroartikel abgewogen, eingepackt und etikettiert – Büroklammern, Gummis –, was gerade anfällt.» Dass immer etwas anfällt, ist eine ihrer wichtigsten Aufgaben, denn der Markt ist durchaus hart umkämpft. «Die Unter­nehmen erwarten kostengünstige Arbeit. Behinderten-Bonus? Den gibt’s nicht. Denn die meisten Auftraggeber sind ihrerseits Zulieferer und wollen es auch bleiben, also müssen wir ihnen einwandfreie Ware liefern!»

Wie das funktioniert? Im Team! Im Wissen um die Fähigkeiten aller Beteiligten. Angefangen bei Sabine Werner, ihrem Organi­sations- und Kalkulationstalent. Über die sechs weiteren Kollegen vom Fachpersonal, die gerade so viel eingreifen, dass der Arbeits­fluss ungehemmt bleibt, und so wenig, dass die Betreuten ein Höchstmaß an Eigenverantwortung behalten. Bis hin zu den Mit­arbeitern selbst, die nicht nur spezifische Einschränkungen haben, sondern auch spezifische Begabungen, deren kluge Mischung zu erstaunlichen Ergebnissen führen kann.
«In der Montage wechseln sich einfache Arbeiten mit solchen ab, die differenzierter und anspruchsvoller sind. Daher kann jeder in der Kette der Arbeitsschritte seinen sinnvollen Beitrag leisten. Dabei ist gerade auf die ‹Mittelfitten› Verlass. Die sind mit sich und der Welt zufrieden, gut gelaunt, ausdauernd, fleißig – und zwar Tag um Tag!» Und was ist mit denen, die scheinbar nur daneben sitzen? Im Rollstuhl, den Körper eigentümlich verkrümmt? «Wir haben vor einigen Jahren die speziellen ‹Fördergruppen› aufgelöst und eine Art Integration in der Integration begründet. Die Unproduktiven und die vergleichsweise Produktiven arbeiten jetzt zusammen. Was für beide ungemein bereichernd sein kann. Die Stärkeren können die Schwächeren unterstützen, ihnen etwas zeigen. Die Schwächeren sind oft freudig gelaunt, und ihr bloßes Dasein, ihre Lautäußerungen, das Leuchten ihrer Augen hebt die allgemeine Stimmung.»
Dennoch wird auch in der Montagewerkstatt den besonderen Befindlichkeiten Rechnung getragen. «Hier geht es recht bewegt zu. Wenn man das mag, kann man sich sehr zuhause fühlen. Ungemütlich wird es eigentlich nur dann, wenn keine Aufträge da sind und man anfängt, die Zeit abzusitzen. Für die, die mehr Ruhe brauchen, haben wir die sogenannte ‹Kreativgruppe› eingerichtet. Auch hier wird produziert, vor allem Auftragsarbeiten und Sonderanfertigungen: Fotoalben, Kladden, Postkarten. Handge­malte Motive. Oder kleine Serien auf Basis von Linol- und Kartoffel­druck. Oder Holzmodeln. Ein Rückzugsraum auch für alle, denen die Montage einmal vorübergehend zu hektisch wird.»
«Arbeit ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Sie erfüllt uns dann mit Sinn, wenn sie von anderen Menschen ge­wünscht und benötigt wird.»
Wer durch die Brille dieses Gedankens aus dem Leitbild der Troxler-Werkstätten den Wuppertaler Arbeitsalltag verfolgt, begreift nach und nach, wie durchdacht hier eins ins andere greift. Und dass das Ziel, an dem hier alle mehr oder weniger bewusst arbeiten, zwischen den verschiedenen Zwecken liegt, die verfolgt werden müssen. Natürlich geht es um ‹Vollbeschäftigung›, um Auslastung der Ressourcen, um Effektivität und um den kleinen Gewinn, aus dem das Troxler-Haus seinen Mitarbeitern einen bescheidenen Mehrbetrag auszahlen kann. Und natürlich geht es um den einzelnen Mitarbeiter, um seine individuellen Schwächen und seine relativen Stärken. Aber daneben und darüber hinaus geht es um sehr viel mehr.
Es geht um die Schönheit und das Unverwechselbare der eigenen Produkte – Möbel, Lederwaren, Schulhefte, Backwaren und Kunsthandwerkliches aus Keramik, Filz oder Kupfer. Sogar eine Kunstwerkstatt existiert, angeleitet durch Otto Zech, dessen Schüler am gleichen Acht­stundenarbeitstag wie alle anderen Mitarbeiter nicht etwa therapeutisch malen, sondern veritable Kunstwerke produzieren, von denen bereits einige den Weg in bedeutende Sammlungen gefunden haben. Otto Zech: «Wir machen freie Kunst, ohne Vorgaben. Nicht die Behinderung steht im Mittelpunkt, sondern das Potenzial, das im Einzelnen steckt. Wo ist er stark? Das fördere ich. Der Intellekt steht hinten an, worauf wir aufbauen, ist Seelenintelligenz.»
Und es geht um einen in der Gegenwart gerne und inflationär benutzten Begriff: Ganzheit(lichkeit). Um den ganzen Menschen, der nicht nur als Teil eines mehr oder weniger gut funktionierenden Arbeitsprozesses gesehen wird, sondern, wie Martin Christophery, verantwortlich für die Außenstelle Werkhof Rose Ausländer sagt, «als eine Persönlichkeit, deren Entwicklung wir im Arbeitsleben auf vielfältige Art fördern und entwickeln können». Wie ernst es den «Troxlern» damit ist, zeigt auch die große Bedeutung der individuellen Therapie. Innerhalb der Arbeitszeiten! Martin Christophery: «Arbeit ist Arbeit für andere. In der Therapie dagegen geht es darum, an sich selbst zu arbeiten. Um individuelle Entwicklung. Um alles das, was im Arbeitszusammenhang keinen Platz hat, weil es einen intimeren Rahmen braucht.»

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

Und um das Ganze des Troxler-Hauses, das mehr ist als die Summe seiner Teilbereiche, geht es auch. Was sich nicht zuletzt an den Kreisläufen zeigt, die den Alltag der Werkstätten durchziehen. Die Gärtnerei produziert Gemüse, der Bauernhof Milch und Fleisch – und alles zusammen landet in der Küche, die einerseits echte Werkstatt ist, andererseits aber auch vom Haus, fürs Haus und durch die Mitarbeiter des Hauses lebt und wirkt. Ein Waldstück gibt es, das die Öfen der Anzuchthäuser mit Brennholz versorgt. Eine Wäscherei, die auf hohem Niveau gewerblich wäscht und mangelt, ganz nebenbei aber auch sämt­-liche Hauswäsche miterledigt. Die Bäcker backen Pausenbrot,* die Tischler fertigen Kleinmöbel für den Hausbedarf** und wenn die Montage eine Arbeitshilfe für das Einsortieren von Doppel­gewinde­schrauben braucht, lassen sich die Metallwerkstattleute gewiss nicht lumpen, denn «man muss nicht fließend bis drei zählen können, um hier zu arbeiten!»
Und auch was das institutionelle Ganze betrifft, schlägt man in den Troxler-Werkstätten, die ohne klassische Hierarchie begonnen haben und längst dem Zustand ‹fruchtbarer Anarchie› entwachsen sind, faszinierende Wege ein. «Dem Fachpersonal wird die Freiheit der Mitarbeit im doppelten Wortsinn zugemutet», meint Klemens Knor, der Leiter der erfolgreichen Papierwerkstatt, und was er dann voller Begeisterung vom Prinzip der ‹Dynamischen Delegation› und der Methode ‹Wege zur Qualität› erzählt, wäre sicherlich eine eigene Geschichte wert.
Doch es gilt noch den Kreis dieser Geschichte zu schließen. Es ging um Behinderte. Um Menschen mit einer Behinderung, einem Handicap. Um Seelenpflege-Bedürftige, wie es im Troxler-Leitbild heißt. Draußen, in der Welt der ‹Normalen›, glaubt jeder zu wissen, was damit gemeint ist, auch wenn bereits die Wortalternativen unsere Unsicherheit spiegeln. Doch zwei Tage Troxler (nebst einer gehörigen Portion Vorerfahrung) reichen nicht aus, um die Dinge so zu beschreiben, wie sie wirklich sind. Das können nur Insider! Also haben die Insider das (leider zu kurze) letzte Wort:
«Viele unserer Betreuten sind sehr lebensbejahend, offen, humorvoll und vorurteilsfrei und erleben sich und die Welt in Übereinstimmung.»
«Es sind vor allem authentische Menschen, die man einfach gern haben muss. So pur und wahr …!»
«Wen vermitteln wir nach draußen? Nicht unbedingt die Leistungsträger, sondern die Sympathie­träger – weil das draußen gebraucht wird: Freundlichkeit!»
«Wie gelassen sie mit ihrer Behinderung umgehen, wie viel Dankbarkeit für Kleinigkeiten da ist!»
«Das Gefühl ‹der ist behindert› verschwindet ganz oft, das kann man sich als Außenstehender wahrscheinlich gar nicht vorstellen?!»


* Und natürlich – bis ins nahe Düsseldorf – Demeter-Backwaren an den (bio­logischen) Einzelhandel.
** Und natürlich – bis hin zur formvollendeten industriellen Kleinserie «arthana» – individuelle Möbel im Kundenauftrag.