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Richard Scrimger

Mit Charlys Augen

Nr 138 | Juni 2011

gelesen von Simone Lambert

Erwachsene können das Leben von Kindern schon durcheinanderbringen: Charlys Vater wird des Bankraubs verdächtigt! Der Fall muss aufgeklärt und der wahre Strumpf­maskendieb gefunden werden, beschließen Charly und seine Freunde. Aber nicht Charly und die Detektive versuchen hier, Recht und Gerechtigkeit wieder herzustellen für Charlys lieben Papa, sondern Jugendliche, die beinahe verzweifelt anein­ander hängen, verlassen sich lieber auf ihren eigenen Verstand und Einsatz, weil eine Gefängnisstrafe zu einem Umzug von Charlys Familie und damit zur Trennung führen würde.
Ein merkwürdiges Trio hat sich da nach dem Wechsel auf die Colfax Middle School gefunden. Bernadette lebt bei ihrer alkoholkranken Mutter. Das ebenso einfühlsame wie unsentimentale Mädchen ist seit Kindergartentagen mit dem Nachbarsjungen Charly befreundet. Lewis, der sich beiden anschließt, geht jedes Feingefühl ab; überraschenderweise macht er im Verlauf der Ge­schichte dann doch ein paar Dinge richtig. Und Charly, Sohn etwas überspannter, dauerverliebter Eltern, beeindruckt durch gutes Aussehen, gutes Benehmen – und seine Blindheit. Dieses Hindernis prädestiniert ihn zum auf Hilfe angewiesenen Außen­seiter und zum Prügelknaben für den Klassenschläger Frank: eine Rolle, die Charly würdevoll, ironisch und souverän in Frage stellt.
Richard Scrimger zeichnet seine jugendlichen Protagonisten als starke Charaktere, die Erwachsenen lediglich als ausgeprägte Typen: den Klassenlehrer Mr. Floyd zum Beispiel, der mit seiner coolen Art die Schüler für sich einnimmt. Oder Mrs. Jodelschmidt, eine ehemalige Zirkusartistin mit einem auf Geldfunde dressierten Schoßhündchen. Aber auch Charlys Blindenbetreuer Mr. Under­glow, ein Sozialarbeiter in Strumpfhaltern, weckt in den Jugend­lichen einen Verdacht. Die Erwachsenen erweisen sich fast ausnahmslos als desillusioniert, traumatisiert, verantwortungslos, kommunikations- oder handlungsunfähig. Von ihnen ist keine Hilfe zu erwarten.
Doch Scrimger lässt seine Protagonisten nicht im Stich: Gideon, ein Schutzengel in der Gestalt eines kindlichen Supermanns, stets begleitet von Kirchenmusik und Flummis (!), taucht immer dann auf, wenn den Freunden Gefahr droht. In seinen wechselnden Identitäten – ob als Mitschüler, Fensterputzer oder Polizist – bleibt er rätselhaft. Gideons Präsenz personifiziert den Humor und die Güte, die sich bereits im lakonischen Witz und dem respektvollen Blick auf die konfliktbeladenen Jugendlichen spiegeln.
Der Autor nutzt das Genre der Detektivgeschichte, um eine Ge­schichte über Abhängigkeit zu erzählen – laut Charlys Einsicht eine Grundbedingung menschlichen Daseins – und wie ver­heerend sie sich auswirken kann, aber auch, wie sich gerade daraus Verantwortung und Liebe entwickeln lassen. Die Schlusssequenz auf dem nächtlichen Friedhof gewinnt Symbolcharakter und illustriert tiefste Ängste und Schmerzen: Charly allein, in der Dunkelheit zuhause, kennt nicht die Angst vor der Finsternis; er kriecht in eine Familiengruft und kann dort den Täter stellen. Die kathartische Kraft in Charlys gütigem «Blick» auf die Ereignisse verwandelt die Geschichte, ohne dass sie die Realität verändert.
Es ist die Kunst des Richard Scrimger, mithilfe von Drastik einer erstaunlichen und berührenden Subtilität Ausdruck zu verleihen.