Ralf Lilienthal

Das Staunen wecken

Nr 140 | August 2011

Der Schulgarten der ersten Waldorfschule

In etwa so dürfte sich ein Musiker fühlen, der gerade einen Raum mit vollkommener Akustik betreten hat!
Das Ziel der Reportagereise? Die Stuttgarter Uhlandshöhe. Genauer gesagt der Schulgarten der 1919 gegründeten allerersten Waldorfschule. Die Erwartungen an den vielgelobten Ort sind hoch, auch wenn der Reporter, selbst gelernter und ausübender Gärtner, zwar als wohlwollender, aber dennoch fachkritischer Beobachter hierher gekommen ist. Der Weg vom Schulhof zum Gartengelände führt stufenweise auf eng von Büschen gesäumten Pfaden hinauf in die grüne «Beletage». Denn das ist sie tatsächlich, ein über dem gebäudebestandenen Parterre gelegenes, halb verstecktes, malerisches zweites Stockwerk, das in diesem citynahen Teil der Halbmillionenstadt wohl kaum jemand vermutet hätte.
Wie lässt sich das Ensemble von Grabeland, Gewächshäusern, Kompostflächen, Obstwiesen, Unterrichtshäuschen und Stauden­rabatten nachvollziehbar charakterisieren? Man denke sich – ohne die Beton- und Eternitsünden jener Zeit – eine kleine süddeutsche Familiengärtnerei der 50er- oder 60er-Jahre. Jeder Winkel geprägt von Können, Fleiß und einer Bodenständigkeit, die buchstäblich aus der jahrzehntelangen Pflege des Kulturguts Boden erwachsen ist. Hier durchzulaufen fühlt sich unmittelbar gut an, obwohl nichts Spektakuläres, nie Gesehenes oder perfekt Designtes den Blick auf sich zieht. Stattdessen überall handfeste Gartenpraxis. Viel Nutzgarten. Erntereife Salatköpfe, Möhrenkraut und Kohlrabi­knollen – beetweise in Reih und Glied, wie sich das für einen Gärtner gehört, der nötigenfalls von den Produkten seiner Arbeit wohl auch leben könnte.
«Der Schulgarten umfasst über 8000 Quadratmeter Land.» Achttausend Quadratmeter? Wie kann ein einziger Gärtner, dessen eigentliche Aufgabe ja eine pädagogische ist, so viel Land auch nur halbwegs in Ordnung halten? Andreas Höyng, seit 16 Jahren im Amt des Gartenbaulehrers, klärt das Missverständnis rasch auf: «Die Schule ist zweizügig und hat daher auch zwei Gartenbaulehrer. Jeder von uns bewirtschaftet mit seinen Schülern in etwa die Hälfte des Landes.» Abgesehen davon, dass der Garten trotz Zweiteilung als ein gelungenes Ganzes erscheint – auch die gut 4000 Quadrat­meter, die Gärtner Höyng unter Spaten, Schere und Gießkanne hält, sind keine Kleinigkeit.

Schon nach wenigen Minuten, während der Gartenbaulehrer den Reporter mit lebhaften Gesten durch sein grünes Reich führt, während er zeigt, erläutert und erzählt, wird der ungewöhnliche Mix seelischer Qualitäten deutlich, dem der Schulgarten seine Strahlkraft verdankt. Dieser energiegeladene Mann steckt in seinem Garten mittendrin und blickt zugleich mit dem nötigen Abstand von außen darauf. Das heißt? Wie sich das für einen echten Gärtner gehört, ist Höyng Teil seines Gartens geworden. Es scheint, als ob die Gärtnersinne über die Grenzen der Person hinausgewachsen und mit der umgebenden Lebendigkeit so verwoben sind, dass Veränderungen und Gefährdungen, Notwendiges und Unge­wöhn­liches bewusstseinsunmittelbar bei ihm anzukommen scheinen. Höyng erspürt, was die Stunde biologisch-gärtnerisch geschlagen hat. Gleichzeitig begreift und durchdringt er seinen Garten aber auch bis in jenen Bereich hinein, der, fußend auf der anthropo­sophischen Geisteswissenschaft Rudolf Steiners, der «dynamische» genannt wird.
Andreas Höyng spricht aus Erfahrung und mit philosophisch geschultem Geist über die Wirk­sam­keiten im Fein- und Nicht-mehr-Stofflichen klar und überzeugend. Aber nicht im Unterricht! Denn das in den sechsten, siebten und achten Klassen wöchentlich mit einer Doppelstunde im Waldorfschul-Lehrplan verankerte Fach «Garten­bau» ist vor allem «ein Willensfach», so Höyng. «Es geht darum, die Sinne zu öffnen. Staunen zu wecken. An das Lebendige in der Natur heranzuführen. Nicht intellektuell, sondern durch Tätigkeit. Natürlich ist es gut, wenn ich weiß, wie viel Arbeit es macht, bis man eine Tomate in der Hand halten kann. Aber so wenig wie wir im Musikunterricht Musiker ausbilden, bilden wir im Gartenbauunterricht Gärtner aus. Stattdessen entwickeln sich Fähigkeiten, die eine Verwandlung durchmachen und im Erwachsenenalter etwa als soziale Kompetenzen sichtbar werden.»
Was immer Höyng sagt, es klingt plausibel. Auch sein Unterricht überzeugt unmittelbar. Nicht zuletzt deshalb, weil sein pädagogisches «Repertoire» über das Leben der Kulturpflanzen und den Jahreslauf hinaus auch die Nutztierhaltung von Esel, Schaf und Biene umfasst. «Wir wollen schleudern!» – «Wir entdeckeln die Waben!» – «Dürfen wir die Esel holen?» Auch wenn nicht jeder Schüler jedes Mal dort landet, wohin Lust und Laune ihn gerade ziehen – am Ende der Schulstunde waren die Esel auf der Weide, wurden die Buschbohnen ausgesät und knapp zwei Dutzend Halbkilogläser mit frisch geschleudertem, duftendem Honig gefüllt.*

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Fotos: © Charlotte Fischer (www.lottefischer.de)

Insbesondere die Demeter-Imkerei, mit regelmäßig bis zu einem Dutzend Bienenvölkern, gibt Andreas Höyng ein pädagogisches Instrument in die Hand, mit dessen Hilfe er ohne Umweg zum Wesentlichen vorstoßen kann. «Rähmchen bauen, Honig ernten und verarbeiten, Wachskerzen ziehen, Salben und Cremes herstellen – durch die Imkerei habe ich das ganze Jahr über, vor allem auch im Winter, sinnvolle Arbeit. Gleichzeitig entsteht im Umgang mit den Bienen eine Stimmung des Staunens und Fragens, die auf anderen Gebieten nicht so schnell und selbstverständlich aufkommt.» Dass bei der Arbeit ohne Imkerschutzkleidung auch Mut, Geschick und Behutsamkeit geweckt und geschult werden, ist keine bloße Hoffnung, sondern lässt sich an den Schülern unmittelbar ablesen.
Nein, dieser Gartenbauunterricht fällt nicht in die von außen und oben herab an die Waldorfschule herangetragene Kategorie «Häkeln und Flöten». Im Gegenteil. Gärtner Höyings Ausblick auf die menschenkundlichen Hintergründe des Lehr­plans, seine fein ausdifferenzierten, erfahrungsgesättigten Erläuterungen geben wirkliche Ant­worten. Warum in der Waldorfschule die dritten Klassen – von der Roggenaussaat bis zum Brotbacken – eine Ackerbauepoche durchleben. Warum der eigentliche Gartenbauunterricht die Jahre der Pubertät übergreift. Warum die Schüler der zehnten Klassen ein Landwirtschafts­praktikum und die elften Klassen eine kurze, intensive Pfropf-, also Baumpflege-Epoche haben. Aber eine hin­reichende Menge waldorfpädagogischer Kernge­danken in die knapp bemessenen Zeilen dieser Reportage zu pressen ist schlechterdings unmöglich. Kurz gesagt: Hier wird nicht naiv, sondern aus Erkenntnis gehandelt!
Und was machen die Jungen und Mädchen das ganze Jahr über im Gartenbauunterricht? «Bleiben wir bei den Haustieren. Natürlich sollen die Schüler ihre Gefühle nicht unterdrücken, wenn sie etwa ein wenige Tage altes Lamm auf dem Arm haben. Aber auch den Tieren gegen­über geht es nicht ums Verniedlichen, sondern vor allem um tätige Begegnung: Hufpflege, Ausmisten, Striegeln, Füttern, Scheren. Ein zorniger Schaf­bock oder ein sturer Esel – das sind körperliche und seelische Heraus­forderungen. Ansonsten folgen die Arbeiten dem Jahreslauf. Beetvor­bereitung. Aussaat. Hacken. Jäten. Wässern. Ernten – drei Jahre lang arbeiten die Schüler insbesondere mit den einjährigen Kulturpflanzen, und dabei werden die Aufgaben immer umfassender, verantwortungsvoller und körperlich anstrengender! Ein Achtklässler, dessen überschießende Kräfte zur Destruktion neigen, freut sich, wenn er mit der Pfahlramme Tomaten­pfosten in den Boden treiben kann!»

Auch wenn Andreas Höyng das Modewort nicht ausspricht, weil das damit Gemeinte für ihn Ergebnis, nicht ideologische Vorgabe seiner Arbeit ist: Was im Schulgarten der Uhlandshöhe im Osten des Stuttgarter Talkessels auf dem für Gemüsebau nur mäßig geeigneten Keuperboden geschieht, ist «ganzheitlich». Vom 400-Euro-Samen­paket («der Garten­bauraum würde aus den Fugen gehen von den Gemüsemengen, die in diesen Tütchen stecken!»), bis hin zu den im Unterricht gekochten Herbstgemüsesuppen, den im Sekretariat ganzjährig verkauften Salaten, Rüben und Honiggläsern, den Wachskerzen und Propolissalben – wer den Gartenbauunterricht dieser Schule durchläuft, dem ist das Wissen um die Zyklen der Kulturpflanzen und Haustiere in Hirn, Herz und Hand geschrieben. «Es ist wichtig, dass wir möglichst nur solche Arbeit machen, die ‹da draußen› tatsächlich gebraucht wird. Das ist die Urgebärde des Sozialen! Nicht: Ich nehme mein Gemüse mit nach Hause. Sondern: Wir tun etwas, und ein Teil davon fließt an andere Menschen.»
Welche Folgen diese Maxime für Andreas Höyng selbst hat, lässt sich an seinen Arbeitszeiten ablesen. Gerade im Hochsommer, in den Ferien, wenn Obst, Gemüse und Schnittblumen explodieren und immer noch täglich verkauft werden wollen.** «Feierabend, Wochenende, Schulferien» – wer seinen Lehrerberuf mit diesem Vokabular dekliniert, sollte einen Bogen um die Waldorfschule machen und um den Schulgarten erst recht. Aber: Die Schüler spüren, dass der Garten so intensiv kultiviert ist, er kriegt eine
Ausstrahlung …»
Eine Ausstrahlung, an der auf der Uhlandshöhe seit drei Garten­baulehrer-Generationen gearbeitet wird. Über neunzig Jahre Schulgarten – abgerechnet die Zeit der Nazi-Diktatur, die die Schule schließen ließ –, das ist eine kaum andernorts zu findende Kulturtat. Kultur? «Die Kulturpflanze ist eine veredelte Pflanze und der Garten ein kultivierter Raum. Indem die Schüler die Natur bearbeiten, leisten sie etwas, das zugleich Spiegel einer inneren Arbeit ist: sich selbst zu veredeln! Das ist die eigentliche Aufgabe der Waldorfpädagogik, nicht das Abitur. Helfe ich den Schülern, ihr eigenes Lebensmotiv zu finden, das Edelreis, das sie selber mit dem verbinden, was durch Herkunft und Umfeld vorgefunden wird? Werden sie es hegen und pflegen können!?»
Und – als wäre das noch nicht Schlusswort genug, hier Höyngs Antwort auf die Frage nach den «nutzlosen», blühenden Gartenwinkeln: «Das Leitmotiv dieser drei Schuljahre sollte eigentlich heißen: ‹Die Welt ist schön›. Also sorgen wir dafür, dass sie auch wirklich schön ist, damit die Menschen später wissen, was es zu verteidigen gilt!»