Andreas Altmann im Gespräch mit Maria A. Kafitz

«Gibt es ein Leben vor dem Tod?»

Nr 141 | September 2011

Wer etwas über die bisherigen Lebensstationen von Andreas Altmann erfährt, der glaubt, sie seien der hitzigen Fantasie einer Autorin entsprungen oder dem Steckbrief eines Flüchtigen entnommen: Psychologiestudium (abgebrochen), Jurastudium (abgebrochen), Tätigkeiten als Spüler, Dressman, Anlageberater, Bau­arbeiter, Nacht­portier, Privatchauffeur, Postsortierer, Parkwächter … Schauspielstudium am Mozarteum in Salzburg (abgeschlossen) und Engagements am Bayerischen Staatsschauspiel in München und am Schauspielhaus in Wien. Wer jedoch glaubt, dass Andreas Altmann damit seinen Platz gefunden und im Applaus des Publikums angekommen wäre, der kennt nur den Prolog und die ersten Szenen. Denn Altmann schminkt sich ein letztes Mal ab und gibt den vermeintlichen «Traumberuf» auf. Er beginnt exzessiv zu reisen – und entdeckt seine große Liebe, seinen wahren Beruf: das Schreiben, zunächst als gefeierter Reporter und seit nunmehr vierzehn Büchern als Autor. Seine Bücher tragen so poetische Titel wie «Im Herz das Feuer» oder «Der Preis der Leichtigkeit» oder aber so schonungslose wie das jüngste Buch: «Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend». Wer Andreas Altmann bei einer Lesung erlebt, spürt unmittelbar seine Ruhelosigkeit. Wer seine Bücher liest, erfährt noch inniger seine Suche und Sehnsucht nach einem Leben vor dem Tod – in seinen Geschichten, die immer dazu antreiben.

Maria A. Kafitz | Herr Altmann, in Ihren Büchern entführen Sie nach Asien und Australien, nach Afrika und Amerika. Nun nehmen Sie uns an einen ganz anderen Ort mit, der nur eines mit den vorherigen gemeinsam hat – den Anfangsbuchstaben: Altötting. Mehr als dreißig Jahre hat Ihre schreibende Anreise gedauert und war trotz des Ortes sicher keine Wallfahrt im üblichen Sinne.

Andreas Altmann | Richtig, keine Wallfahrt, eher ein Rachefeldzug. Aber das stimmt so auch nicht. Ein Rachebuch ist bald fad, weil der Leser schnell weiß, wie es weitergeht, ihn nichts mehr überrascht. Ich will nicht Rache nehmen, ich will verstehen, will wissen: Was trieb Menschen – Erzieher, Priester, Lehrer, Eltern – in einer oberbayerischen Stadt dazu, innerlich so zu verwahrlosen. In Altötting! In einem katholischen Wallfahrtsort! In dieser Brutstätte namenloser Schein­heiligkeit, verfluchter Wollust, hirnlos geleierter Bußgebete, versteckter Sexorgien, Kinder schändender «Seelsorger» und notorisch prügelnder Pfarrer! Natürlich habe ich darauf keine patente Antwort, ich kann mich nur annähern, nur näher kommen den (Ab)Gründen. Klar, die knapp 260 Seiten sind auch eine Aufklärungsschrift: über die Missetaten, ja Verbrechen, die Autoritäten – darunter mein Vater, der Kirchentenor, SA-Mann, SS-Mann, Russlandkrieger, Lebenslang-Hasser und Rosenkranz-Händler – an mir (und anderen) verübten. Ich rede von Gewalt, von Prügel, von dem ungeheuren Nonsens, der mir – via «Moral», via Religion – eingebläut wurde. Die vielen Jahre Anlaufzeit für dieses Buch habe ich gebraucht, um die große Gefahr einer solchen Auto­biografie zu vermeiden: dass ich als ambulanter Tränensack auftrete, als mitleidshungriger Empörer, der eine Elends-Jeremiade abliefert. Ich musste Distanz gewinnen, um diesen Tatsachenbericht – auch sprachlich – in den Griff zu bekommen.
Das Kind – im konkreten ich – geht nicht unter. Das ist die «Frohe Botschaft». Es wehrt sich, es leistet Widerstand. Meine Geschichte – und ich bin nur einer von vielen, die unter die Räder kamen – soll anstacheln. Soll andere dazu verführen, dass sie sich trauen, Widerstand zu leisten. Denn ich bin, trotz ungeheurer Übergriffe an Leib und Seele, davongekommen.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

MAK | Jan Schmitt hat seinen erschütternden Dokumentarfilm (Wenn einer von uns stirbt, geh’ ich nach Paris) über Macht und Missbrauch, die Kirche und seine Familie veröffentlicht und sich selbst damit zu befreien versucht. «Die Vergangenheit ist nicht vergangen, solange wir darüber schweigen», sagte er. Wollten Sie das Schweigen beenden oder frei(er) werden?

AA |Um etwas gleich klarzustellen, ich wurde NICHT miss­braucht. Ich wurde fast täglich – im Kopf, am Körper – misshandelt. Ja, der Satz von Schmitt stimmt, aber nur dann, wenn dem Reden über die Vergangenheit TATEN folgen. Denn Missetäter – ob es sich nun um sexuell Gewalttätige oder gewaltlüsterne Erziehungsberechtigte handelt – müssen denunziert werden, beim Namen genannt werden, aus dem Verkehr gezogen werden. Natürlich schreibt ein Schriftsteller auch, weil das Schweigen, das Verschweigen von Untaten ein Ende haben soll. Die Schuldigen müssen beschuldigt werden. Und natürlich wirkt Schreiben auch als Therapie. Ich schreibe, also halte ich es aus. Das ist ein magischer Vorgang, den bis heute niemand recht erklären kann. Ein Mensch schreibt über seine Wundmale, und das Leben wird hinterher leichter. Toll, nicht?

MAK | Ja, für jene, die dazu die Gabe und den Mut haben. «Ich kann Opfer nicht ausstehen. Ich war selbst zu lange eins», resümieren Sie am Ende Ihres neuen Buches fast trotzig. «Ich fand ja meine Prothese, jenes Rüstzeug, das mich davor schützt, mein Leben als greinende Heulsuse zu verbringen, mich hindert, ewiglich der ab­wesenden Liebe von Mutter und Vater hinterherzulamentieren …» Was ist denn nach den schutzlosen Jahren Ihr Schutz geworden?

AA | Genau das, die Sprache, die deutsche. Und, wie banal und wie überaus wichtig: mein «Erfolg» mit ihr! Dass andere für meine Gedanken einen Teil ihres Geldes und – noch kostbarer – einen Teil ihrer Lebenszeit hergeben. Ich damit allen Erziehungsberechtigten, allerdings mit einiger Verspätung, bewies, dass ich nicht die notorische Null bin, der Versager, der Loser, der eine, der sein Leben verpfuscht hat. Ja, meine Wut und die so spät entdeckte Leiden­schaft für Sprache rüsteten (und rüsten) mich. Um es aufzunehmen mit den Demütigungen, der erfahrenen Niedertracht.

MAK | Ihre Liebe zur Sprache allein genügt Ihnen jedoch nicht zum Schreiben. Sie sind kein Romancier. Sie sind Reporter. Sie brauchen die Geschichten anderer. Ist auch das eine der Trieb­federn für Ihr umtriebiges Leben?

AA | Leider kein Romancier. Dann hätte ich die Welt im Kopf, könnte sie – immer nur am Schreibtisch hockend – neu erfinden und hinschreiben. Aber als Reporter muss ich mich schinden, muss hinausrennen in die Welt, muss Männer und Frauen ausfragen, muss Geschichten einsammeln. Ja, hundert Mal ja: Ihre «Berichte» sind eine unheimliche Triebfeder. Weil die Leben, die Lebensläufe der anderen mich antreiben, anfeuern, mir oft zeigen, dass man ganz anders (als ich) mit dem Leben, mit den Forderungen und Anwürfen des Lebens umgehen kann. Jeder, den ich «aushorche», bringt mir etwas bei. Über sich, über die Welt, über mich.

MAK | Mit dem Wort «Welt» landen wir gleich bei Ihrer nächsten Liebe, Ihrer nächsten Leidenschaft, denn Sie suchen die Frauen und Männer selten im Café um die Ecke, sondern finden sie während Ihrer ständigen Reisen um die ganze Welt. Brauchen Sie die Ferne, um näher zu kommen?

AA | Ein Kritiker entlarvte mich einmal – mit deutlicher Entrüstung – als einen Autor, «der vor der Realität flüchtet». Der Satz raubte mir eine Nacht lang den Schlaf. So sehr freute ich mich darüber, trefflicher hätte man mich nicht überführen können. Mich und alle anderen, denen jeder Vorwand recht ist, um vor dem Grind heimatlicher Routine die Flucht zu ergreifen, davonzurennen vor dem Ranz eines voraussehbaren Lebens. – Warum reist der Mensch? Warum ich? Aus zwei uralten, vollkommen altmodischen Gründen: Weil ich die Welt entdecken will, die Weltbewohner, den un­fasslichen Reichtum der Erde. Und, das zweite Motiv zählt nicht minder: weil ich dabei etwas über mich lernen will. Jedes Land stellt sich mir entgegen, mit der fremden Sprache, den fremden Gesichtern, den fremden Geheimnissen. Und ich, der Fremde, erfahre, wie ich mit diesen Forderungen, Kollisionen und meinem Staunen fertig werde. Oder nicht fertig werde. Wie richtig Sie es andeuten: Über den Umweg der Ferne komme ich mir nah. Auch wahr: faszinierende Nähe, gefährliche Nähe. Die Mutigsten unter den bekennenden Flüchtlingen kommen nach Hause und tragen ein paar Masken weniger. Sie sind sich begegnet. Das gilt für mein neues Buch nicht minder. Diesmal eine Reise, ziemlich anstrengend, in die Vergangenheit. Es geht immer um das eine: Nähe herzustellen. Um mehr von der Wirklichkeit zu erfahren.

MAK | Sie sind also gerne fremd. Und was brauchen Sie, um vertraut zu sein?

AA | Geist. Kluge Männer und Frauen mit Ironie, Selbstironie, Witz. Und Gedanken, die mich weniger einsam machen. Und Swing, das wären Leute, die sich für die Welt interessieren, die Weltbewohner, eben die Weltwachen. Ganz gleich, wo. Sie sind immer innigst willkommen. Denn ich brauche sie alle. Viele andere brauche ich nicht: jene, die gern bei der Weltverblödung aushelfen. Die Hirnleeren. Die Kalten. Die Dunkelbirnen. Die Wehleider. Die Wichtigen und die Wichtigtuer. Wer sie mir um den Bauch bindet, macht mich einsamer als zuvor. Von Vertrauen, von Vertrautsein keine Rede.

MAK | Sie zitieren gerne Karl Kraus mit seiner Frage, ob es ein Leben vor dem Tod gibt. Wie haben Sie diese Frage für sich selbst beantwortet?

AA | Indem ich alles hoch-, nein, höchstschätze, was von meinen Religionslehrern besudelt wurde: den Körper, die schiere Lebensfreude (die Erde war ja das Jammertal!), den Eros, das Widersprechen, den Eigen-Sinn, das Auslachen ewiger Wahrheiten. Und: indem ich nicht eine Sekunde an die Hirngespinste, den Paradiesgarten-Stuss vom «Jenseits» glaube und radikal dafür sorge, dass ich ganz «irdisch» bleibe und mich von keinem römisch-katholischen Schwadroneur (ich bin Ex-Katho) auf ein «Himmelreich»
vertrösten lasse. Dass ich es vehement ablehne, dass jemand für mich am Kreuz geschlachtet werden musste, um mir das «ewige Leben» zu garantieren. Ich will nicht ewig sein, will nur ein Leben, ein ganzes, VOR meinem Tod. Will lieben und geliebt werden, will sein. Aber heftig, aber tief, aber sinnlich.

MAK | Derweil können Sie ja auf das eine und andere heftig und tief und sinnlich gelebte Jahr zurückblicken. Angenommen, der Andreas von damals stünde vor dem Altmann von heute – was würden die beiden einander sagen?

AA | Der Altmann würde sagen: «Erinnerst du dich an die Geschichte, die du vor vielen Jahren gelesen hast? Die eine, die Gandhi erzählte: Über einen Jungen, der die Straße entlangging und weinte. Und ein Erwachsener vorbeikam und fragte, was passiert sei. Und der Kleine erzählte, dass er von einem Klassenkameraden eine Backpfeife bekommen habe. Worauf der Mann wissen wollte, ob er sich verteidigt habe. Als der Junge verneinte, verabreichte ihm der Fremde noch eine Ohrfeige. Irgendwann hast du diese Metapher verstanden: Man darf sich nichts gefallen lassen. Man muss darauf bestehen, dass der Respekt vor sich selbst nicht zuschanden kommt. Gut so, denn diese Erkenntnis ist die Grundlage für den Respekt für andere. Aber für jene anderen, die Kinder achten, sie behüten, sie anspornen zum Leben.»