Ralf Lilienthal

Kiez-Helden

Nr 142 | Oktober 2011

Das Berliner Projekt «Heroes – Gegen Gewalt im Namen der Ehre»

Spider- oder Superman, Dare-Devil oder die Fantastic Four – wer sich schon einmal auf die Bilderwelt der Comic- oder Leinwand-Superhelden eingelassen hat, kennt die Alltagsunscheinbarkeit der Protagonisten. Sind doch die übermenschlichen Helden im zivilen Dress häufig linkisch, schüchtern oder zumindest unauffällig und ihre Zeitgenossen halten sie aller möglichen Dinge für fähig, gewiss aber nicht jener Wundertaten, die sie im Superheldenoutfit so leichthin tun.
Eine verwandte Erfahrung kann man auch im Berliner Kiez machen. Auf der Sonnenallee, in Kreuzberg, im Rollbergviertel. Vielleicht gehst du gerade an zwei scherzenden Helden vorbei und merkst es nicht! Warum auch? Schließlich sehen sie aus wie viele der jungen Männer zwischen 17 und 25 in dieser Gegend: sportliche Figur, lässig gestylte schwarze Haare, cooles Outfit, Stöpsel im Ohr. Sie sind «Sons of Gastarbeiter» oder Flüchtlings­kinder. Aus der Türkei, Jordanien, Iran oder dem Kosovo – mit einem Wort, sie sind Migrantensöhne aus Ehrenkulturländern. Und sie sind, wie gesagt, Helden. Heroes. Kämpfer «für Menschen­rechte und gegen Unterdrückung im Namen der Ehre». Das klingt abstrakt? Sperrig? Und so gar nicht cool? Nun ja, das Leben ist kein Marvel-Comic, aber was der Berliner Verein «Strohhalm e.V.» da vor vier Jahren auf die Schiene gesetzt hat, war zu keiner Zeit ein langweiliger Bummelzug. Und manchmal sogar eine Achterbahn.
Doch von Anfang an. «Ehrenmord» – als dieser Begriff Ende der Neunziger-Jahre das Medienvokabular Westeuropas traurig bereicherte, wurde man auch in Schweden unruhig. Mädchen, die von ihren Vätern, Brüdern und Onkeln nur deshalb getötet wurden, weil sie die gleichen Freiheiten genießen wollten wie ihre blonden Freundinnen? Das war ungeheuerlich und musste bekämpft werden. Doch wie bekämpft man eine tief in den Traditionen verwurzelte Gesinnung, ein patriarchalisches Familienverständnis, das zwar im Ehrenmord gipfelt, aber schon wesentlich früher zu Grausamkeiten und Gewaltakten körper­licher und vor allem auch seelischer Art führt? Dass sich die Vätergeneration ändern würde, schien mehr als unwahrscheinlich. Unmittelbar den Opfern zu helfen, würde über den Einzelfall hinaus kaum wirksam sein. Was wäre, so dachten sich die Initiatoren von «Sharaf Hjältar», wenn man bei den potenziellen Tätern, den jetzigen Brüdern, künftigen Ehemännern und Vätern ansetzte?

Das Experiment, verantwortet von «Elektra», finanziell und ideell gefördert von der «World Childhood Foundation» der schwedischen Königin, gelang. Und es inspirierte Dagmar Riedel-Breidenstein und ihren Verein «Strohhalm e.V.» zu einer Berliner Variation dieses brennenden Themas.
Die Anfänge von «Heroes», wie das Projekt jetzt kurz und prägnant hieß, standen unter einem guten Stern. Die erste Projektleiterin, Anna Rinder von Beckerath, hatte schon die schwedische Arbeit verantwortet, bevor sie – biographisch perfekt getimt – für drei Jahre nach Berlin verschlagen worden war. Die Childhood-Foundation zeigte sich weiterhin in kreativer Geberlaune. Und mit Yilmaz Atmaca und Ahmad Mansour fanden die beiden Gründer-Frauen ein nahezu perfektes Gruppenleiter-Duo.
Perfekt? Was sind die Zutaten für eine gelingende kulturchemische Katalyse, deren beteiligte Substanzen ständig kurz vor der Explosion zu stehen scheinen? Die ersten beiden Gruppenleiter waren Männer. Ein Türke. Ein Araber. Einer, der sich auch auf religiösem Feld sicher bewegt, der andere eher «weltlich» sozialisiert. Ein Praktiker (Theater­pädagoge). Ein Wissenschaftler (Psychologe). Zwei frei­heitlich und demokratisch Denkende, die offen genug waren, ihre eigenen Standpunkte erst am Ende einer vertieften Auseinandersetzung zu formulieren. Keine Besser- und Immer-schon-Wisser. Neugierig. Hartnäckig. Mutig. Offen für alles, was kommt.
Und wer kam? Am Anfang niemand. Vor allem nicht die, an die man zunächst gedacht hatte. Die Überzeugungstäter. Der Ehrenkultur-Nachwuchs. Ältere Brüder, die in guter Familien­tradition ein Unterdrückungswerk fortsetzten, dass sie von ihren Vätern und Großvätern gelernt hatten. «Zum Glück war ‹Strohhalm› gut vernetzt. Und zum Glück hatten wir mit dem Standort ‹Rollbergviertel› eine ‹gute Adresse›. Man kannte uns. Empfahl uns weiter. Sodass es nur eine Frage der Zeit war, bis uns die «Richtigen» finden würden.»
Der Erste der künftigen Heroes, Deniz, begleitet von seiner Mutter, kam zu den Heroes aufgrund eines Missverständnisses. Ein Prakti­kum im sozialen Beruf hatte er gesucht, die freiwillige «Ausbildung» zum «Hero» gefunden. Ob Mutter und Sohn sämtliche Implikationen dieser Arbeit gegen «Gewalt im Namen der Ehre» schon damals begriffen hatten, sei dahingestellt. Eines jedenfalls begriffen sie sofort: Deniz war hier genau richtig. Und er hatte die richtigen Freunde. Bald waren sechs «Jungs» zusammen und damit die erste Gruppe komplett.
«Am Anfang wollten sie mit uns nicht über Frauenrechte disku­tieren, über Ehre oder Respekt. Eigentlich ging es die ganz Zeit um ihre eigenen Diskriminierungserfahrungen: an der Schule, mit der Polizei und ganz allgemein in der Mehrheitsgesellschaft! Die ersten zwei Monate haben wir zugehört. Gequatscht. Sind mit ihnen Essen gegangen. Haben zusammen Fußballspiele angeschaut. Eine Atmosphäre des Vertrauens aufgebaut.»

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Fotos: © Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

Später waren es vor allem einfache, konsequente Fragen, mit deren Hilfe Yilmaz und Ahmad die Konventionen aufbrachen. Wieso hängt die Familienehre davon ab, ob eure Schwestern um sechs zu Hause sind? Wieso ist Gewalt gegen Kinder richtig? Wieso müssen Frauen von Männern geschützt werden? Was bedeutet es für eine künftige Ehefrau und Mutter, wenn sie vom Leben abgeschirmt wird, keine eigenen Erfahrungen und keine «Fehler» machen darf? Was bedeutet es, wenn die Frau an meiner Seite nicht freiwillig bei mir bleibt, sondern nur deshalb, weil sie dazu gezwungen wird? «Unsere Fragen hatten häufig einen ‹Wog-Effekt› zur Folge. Obwohl die Jungs aus toleranten, offenen Familien kamen, hatten die meisten dennoch nie über diese Themen nachgedacht oder diskutiert. ‹In unserer Kultur ist das so›, hieß es, ‹darüber wird nicht gesprochen›.»
Tatsächlich rühren die Gruppenleiter an Tabu-Themen, die gelegentlich selbst bei ihnen Zweifel aufkommen ließen. Ahmad: «Ich habe meine Herkunftskultur nie aufgegeben und in der Auseinandersetzung damit die gleichen inneren Kämpfe durchgemacht wie die Jungs. Ist das, was wir machen, vielleicht gegen meine Religion? Habe ich das Recht, so darüber zu reden? »
Und es wird nicht nur geredet. Die Gruppen besuchen Theaterstücke, Filme oder Ausstellungen zu ihrem Thema. Haben misshandelte oder zwangsverheiratete Frauen zu Gast. Ein Holocaustopfer. Einen türkischen Homosexuellen. Emotional ziemlich hartes Brot für ein halbes Dutzend junger Männer, die genauso gerne Party machen oder Streetball spielen wie ihre Nicht-Hero-Altersgenossen auch. Warum sie dennoch zu den «Heroes» kommen? «Weil wir an ihren eigenen Erfahrungen anknüpfen! Jeder von ihnen weiß, wie sich Ausgrenzung und Demütigung anfühlt. Dadurch sind
sie empathiefähig.»
Und wissbegierig! «Alles war neu. Und es wurde auf den Punkt gebracht. Meistens haben wir uns auf dem Nachhauseweg noch stundenlang über alle möglichen Sachen unterhalten!» (Kushtrim, Kosovo-Albaner.) «Erst dachte ich, es wird wie Schule. Aber es war locker. Wir haben offen über alles geredet und uns nie bedrängt gefühlt. Wie ein Freundeskreis, der sich über ein Thema unterhält.» (Diren, Türkischer Kurde.)
Nach neun, zehn Monaten tritt die Arbeit der Gruppen in eine neue Phase ein. Denn «Heroes» ist ein Multiplikations- und Vorbild-Projekt. Sechs «Helden» jedes Jahr sind gut, sechzig oder sechshundert zusätzlich mit dem Virus der Nachdenklichkeit Infizierte sind besser. Das Mittel dazu? Workshops in Schulen und Jugendeinrichtungen. «Zwei von den Jungs leiten den Workshop, wir Gruppenleiter sind nur zur Unterstützung dabei.» Drei Schulstunden lang wird gearbeitet. Wichtigstes Werkzeug: Kurze Rollenspiele. Ein bis zwei Minuten lang. Typische Szenen: Der Vater schickt seinen Sohn los, um die widersetzliche Tochter nach Hause zu holen. Der Onkel fordert die Zwangsverheiratung seiner Nichte. Der Freund erzählt dem Bruder von der Schlampenclique der Schwester. Die Heroes spielen. Und leiten die anschließende Diskussion.

Dagmar Riedel-Breidenstein: «Es ist für die allermeisten muslimischen Jungen und Mädchen das erste Mal, dass sie auf Menschen treffen, die aus ihrer eigenen Kultur kommen und sagen: ‹Da mache ich nicht mit, das ist falsch!› Und es ist viel gewonnen, wenn sie dann sagen: ‹Dat kenn ick! Aba da haak ick noch nie drüber nach­jedacht!›.»
Kushtrim: «Oft sind Jungs dabei, die auch so wie wir denken, aber den Mund nicht aufkriegen, weil sonst der Macho sagt ‹Ey, du hast keine Ahnung!› Für die sind wir so was wie große Brüder, und dann trauen sie sich plötzlich auch was!»
Und die zuschauenden Mädchen? Eldem Turan, seit Kurzem die erste weibliche Gruppenleiterin bei den Heroes: «Die kommen oft nachher und sprechen mich als Frau direkt an. Auch wenn die Wirkungen der Workshops nicht immer offensichtlich und ‹laut› sind, sie sind da!»
«Heroes» – ein gelungenes Projekt? Wann ist ein soziales Projekt ge­lungen? Wenn es Ableger und Nachfolger provoziert? In Duis­burg gibt es bereits «Heroes», in München, Augsburg und Nürnberg stehen sie schon in den Startlöchern. Wenn es Aus­zeichnungen erhält und in den Medien präsent ist? Heroes wurde mit dem «Prix Courage» und dem «Hauptstadtpreis» ausgezeichnet und kann sich über mangelnde TV-, Radio- und Print-Publikationen nicht be­klagen.
Ja, das sind Indizien des Gelingens. Wirklich wichtig aber sind die leisen, zarteren Wirkungen. Die Zuversicht zwischen den Worten. Das Selbstbewusstsein auf den Gesichtern. Der Geist der Freundschaft in den Gesten. Beinahe unsichtbar ist das Weiter­wirken. In den Biographien der Kinder und Kindeskinder. Wie ein fein verteiltes Ferment, das immer mehr wird, indem es sich verbraucht. Das «Heroes-Projekt» strahlt diese Wirkungen aus und wird es hoffentlich noch lange tun. Wir wünschen es den Heroes. Und ein wenig mehr finanzielle Förderung wünschen wir ihnen auch!