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Michael Lipson

Wie werden wir von Leidenden zu Erfindern?

Nr 142 | Oktober 2011

Barbara Ann McClintock, die spätere Nobelpreisträgerin für Biologie, belegte als junge Studentin in den Dreißigerjahren des vorigen Jahrhunderts einen Geologiekurs und verliebte sich dabei in die Felsen. Ihre Biografin Evelyn Fox Keller berichtet über ihr Abschlussexamen in diesem Kurs, dass sie ein Examens­heft nach dem anderen mit ihren Erkenntnissen füllte, so vollständig und freudig ging sie in dem Projekt auf. Als sie fertig war, schloss sie das letzte Heft und stellte fest, dass sie ihren Namen noch nicht auf den Umschlag geschrieben hatte – und sie konnte es nicht mehr, denn sie hatte ihren Namen vergessen. Sie war, wenn wir so wollen, in ihrem Thema verschwunden. Alles an ihr war Felsen geworden. Es brauchte eine Viertelstunde, bis sie so weit in die Behausung ihres Körpers und in ihre Biografie zurückgekehrt war, dass auch ihr Name wieder da war.
Das ist Denken: Es findet das Gute und vergisst sich selbst. Es ist Liebe in der Form der selbstlosen An­wendung auf ihr Objekt. Wenn wir mit unseren Gliedmaßen etwas vollkommen aufmerksam tun, durchlaufen wir einen ähnlichen Vorgang. Er stülpt uns um, sodass das Empfinden, «hier drinnen» zu sein (eingeschlossen in der Haut) und die Welt «dort draußen» (abseits von uns) zu erleben, für Augenblicke einem mehr ausgedehnten Zustand weicht. Wir treffen das oft bei Künstlern und Athleten an, die fühlen, dass ihr Tun weniger von ihnen selbst kommt als durch Teilnahme an dem Geschehen der Welt. Eugen Herrigel berichtet in seinem Buch Zen in der Kunst des Bogenschießens über seinen Zenmeister den Ausspruch: «Ich aber weiß, dass nicht ‹ich› es war, dem dieser Schuss angerechnet werden darf. ‹Es› hat geschossen und hat getroffen.»
Die Fähigkeit, sich zu versenken, ist das Hauptmerkmal von dem, was Mihalyi Cziksentmihalyi «Fließen» nennt, d.h. der optimalen menschlichen Erfahrung. In jeder Art von Aktivität liegt die Möglichkeit, dass der Handelnde zu dieser Erfahrung kommt, und damit hängt ein großer Teil der Liebe zusammen, die Künstler für ihre Kunst, Athleten für ihren Sport und Studenten für ihre Fachrichtung haben. Umgekehrt ist Liebe zum Tun sehr wichtig, damit es zum «Fließen» wird.
Dieses Fließen ist Tun, und es bringt uns nahe an die Quellen von jeglicher Bewegung. In jeder Handlung, die mit voller Konzentration getan wird, geschieht das Wunder dieses grund­legenden Könnens erneut. Wir erfahren, dass der Wille etwas leisten kann, dass er unsere Gliedmaßen bewegen kann, dass er uns einerseits gegeben ist und uns andererseits dazu einlädt, über uns hinaus zu wachsen: das alles ist eine Form der Liebe.
Als erfahrene Wissenschaftlerin erklärte Barbara Ann McClintock ihre unheimlich genauen Einsichten in die Natur der Mais­pflanze mit den Worten, dass sie ein «Gefühl für den Organismus» zu entwickeln gelernt habe. Wie sie so in ihrem Labor in Cold Spring Harbor gesessen habe, sei ihre Auf­merk­samkeit hinunter in die Küvette ihres Okularmikroskops gezogen und herum­geschwommen in dem Zytoplasma der Zellen, die sie unter­suchte. Daher konnte sie fühlen, welche Vorgänge sich ab­spielten, und später bestätigten Experimente ihre grundlegenden Ent­deckungen.
Das ist Fühlen: Durch eine Intensivierung des Denk­vorganges, durch tieferes Eintauchen mit größerer Aufmerksamkeit fühlen wir unseren Weg zu neuen Wahr­heiten über das untersuchte Objekt. Darin zeigt sich eine Liebe zur Welt, die nicht auf Nützlichkeit orientiert ist, nicht manipuliert werden kann und durch die die Welt zum Antworten eingeladen wird.