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Hans-Werner Schroeder

Nahe und doch verborgen

Nr 143 | November 2011

Die Engelwelt

Die dunkle Zeit, in der es still wird und wir zur inneren Einkehr kommen, ist besonders geeignet, Wahrnehmungen subtilerer Weltbereiche zu machen, die uns sonst verborgen bleiben. Zu ihnen gehört die Gegenwart der Engel. Doch warum sehen wir sie nicht, wenn es wahr ist, dass sie ständig um uns sind und uns begleiten? (fb)

Warum haben wir keinen «Sinn», keine Wahrnehmungsfähigkeit für diese Wirklichkeit? Die Antwort auf diese Frage kann in zwei Richtungen gesucht werden. Schon in unserem menschlichen Erleben bleibt uns unwahrnehmbar und verschlossen, wofür wir uns mit der Seele nicht »aufschließen« können. Die Stille eines Waldes z. B. wird der nicht erleben können, der nicht selbst still wird; wer seine eigene Unruhe, seinen «Seelenlärm» nicht beiseite lassen kann, erfährt nichts von dem, was ihn doch real umgibt; er geht blind und taub daran vorbei. So geht es uns mit den Wesen, die uns umgeben und deren Nähe vergleichbar ist mit der Stille des Waldes; sie leben aus dem «Atem der Ewigkeit»; aber kein Wunder, dass wir davon nichts wahrnehmen können, solange nicht in uns etwas von der Stille und Größe des Ewigen anwesend wird. Unsere eigene Unfähigkeit, uns zum Ewigen zu erheben und alles andere beiseite zu lassen, hindert uns, die ewigen Wesen wahrzunehmen. Und umgekehrt: Wenn es gelingt, etwas von der Ewigkeit in der Seele zu erfassen, so teilt sich auch der Seele die Gegenwart der geistigen Wesen wenigstens ahnend erlebbar mit.
Noch weiter führt uns ein Wort von Blaise Pascal: «Menschen und menschliche Dinge muss man kennen, um sie zu lieben. Gott und göttliche Dinge muss man lieben, um sie zu kennen.» Letztlich ist die Selbstbezogenheit, in der wir leben, das eigentliche tiefere Hindernis für die Wahrnehmung der Wesen, welche nicht in solcher Selbstbezogenheit gebunden sind. Denn diese Wesen können nicht eintauchen in ein Element, das aus Selbstbezogenheit lebt und ihnen deshalb fremd ist. So heißt es zu Recht in Goethes Faust: «Die Geisterwelt ist nicht verschlossen, dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot ...»
Und noch ein zweiter Gesichtspunkt muss erwähnt werden. Rainer Maria Rilke hat – vielleicht durch wirkliche Erlebnisse – sagen können: «Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein … Ein jeder Engel ist schrecklich.»
Das «stärkere Dasein» des Engels muss dem Menschen verhüllt bleiben, solange er nicht – durch das Schicksal, durch das Todeserlebnis – vorbereitet ist, es wirklich zu ertragen. Alle echten Engelerlebnisse haben etwas Erschütterndes, den Menschen durch und durch Ergreifendes – das ist geradezu das Kennzeichen für ihre Echtheit. Aber diese Wucht kann auch zerschmettern oder mindestens unfrei machen; und das darf sie nicht, soll der Sinn des Menschendaseins nicht in Frage gestellt werden.
Das «stärkere Dasein» des Engels ist vor allem seine unerbittliche moralische Kraft – unerbittliche Wahrheit, restlose Forderung der Hingabe an den Geist, zusammen mit unendlicher Güte: Dies zu erfahren, ist überwältigend. Dieses Erlebnis muss dem Menschen verhüllt bleiben, solange er nicht reif dafür ist, es in Freiheit zu ertragen.
So tritt zu dem ersten Gesichtspunkt – der Mensch ist nicht aufgeschlossen, nicht selbstlos genug für das Erleben der Geisteswelt – der andere: Es ist gut, dass da etwas verhüllt bleibt, um der heranreifenden Freiheit des Menschen willen.