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Mireille Geus

Wolf

Nr 146 | Februar 2012

gelesen von Simone Lambert

Die Geschichte einer Jungenfreundschaft, deren trennende Verwundungen erst spät eineVersöhnung erfährt.

Dies ist die Geschichte einer Jungenfreundschaft, die trennende Verwundungen erleidet, und einer späten Versöhnung, an der der Tod nicht unbeteiligt ist.
Zoltan und Wolf freunden sich bereits im Kindergarten an. Mit ungebrochener Begeisterung verbringen sie jahrelang einen um den anderen Tag miteinander. Erst in der Schule drängt ein anderer dazwischen: Wolf wendet sich Leo zu, was Zoltan kränkt und demütigt. Aber erst alsWolf Zoltan bei einem Fußballspiel brutal foult, ist für Zoltan die Freundschaft zerstört. Er stimmt nun seiner Mutter zu, die aus der Stadt wegziehen will, um ihre unglückliche Ehe zu beenden. Zwei Jahre danach begegnet Zoltan Wolfs Mutter, und die lädt ihn ein, seinen Freund aus Kindertagen zu besuchen …

Mireille Geus erzählt ihre dramatische Geschichte ruhig, nervenstark und unerbittlich genau. Wolfs Weg vom wilden, fantasievollen Kind zu einem Jugendlichen mit diabolischen Zügen spiegelt sich in der Szene, als die Jungen noch einmal zusammen malen – einen Motorradfahrer, einen Baum, ein galoppierendes Pferd. Doch Wolf verändert die schönen Bilder: Er macht das Pferd zum Hengst, lässt den Motorradfahrer seinem Tod entgegenrasen und setzt in Zoltans Baum lauter kleine Teufelchen.

Beider Gelächter kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Wolfs kindliche Gleichgültigkeit und Traumverlorenheit sich in Aggression und Grausamkeit verwandelt haben. Sein Verhalten gleicht mehr und mehr dem eines wilden Tieres: intensiv, wachsam, aber auch unberechenbar und verantwortungslos. Sein «Wolfsgebiss» deutet dieses Potenzial früh an.
Wolfs zu Depressionen neigende Mutter bleibt passiv. Während Zoltans Mutter lenkend und schützend eingreift, reguliert sie keinen der Fehler ihres Kindes. Die Unordnung inWolfs Zimmer ist ein sprechendes Bild für ihre Laisser-faire-Haltung. In diesem Chaos wird Wolfs Meerschweinchen vernachlässigt; es stirbt schließlich. Zoltan sorgt dafür, dassWolf das Ereignis überhaupt wahrnimmt, sich verabschiedet und das Tier bestattet.

Mireille Geus ist nach Big erneut die meisterliche Erzählung einer ungleichen Freundschaft gelungen. Die Autorin lässt Zoltans unvoreingenommeneWahrnehmungen sprechen. In Wolf verbinden und lösen sich zeitlose Charaktere.Wolf, rätselhaft und faszinierend, wird immer mehr zu einem, der sich und seinen Körper rücksichtslos einsetzt, ohne dass dieser Einsatz einem Ziel gewidmet ist. Es ist, als ob ihn die Möglichkeiten des Menschseins enttäuschen, während der vermeintlich schwächere Zoltan einen Weg für sich findet, weil er auf menschliche Verbindlichkeiten vertraut.

Wenn Zoltan seinem Freund zum Abschied die lakonischen Worte wiederholt, die der zur Beerdigung seines Meerschweinchens benutzte, dann ist das nicht niederträchtig, sondern würdigt Wolfs Kraft zur Ehrlichkeit: «Lieber Wolf, es lief zwischen uns nicht ganz so, wie wir es uns erhofft haben. Aber ein bisschen schon. Wir wollen damit zufrieden sein. Ich bin froh, dass du mein Freund warst. Danke, alter Junge. Leb wohl.»

Die Geschichte einer Jungenfreundschaft, deren tren­nende Verwundungen erst spät eine Ver­söhnung erfährt.