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Richard Scrimger

Koma

Nr 148 | April 2012

gelesen von Simone Lambert

Der vierzehnjährige Jim wird auf der Roncesvalles Avenue in Toronto von einem Auto überfahren – gerade als er dem Lebensmittelhändler wieder einmal Obst gestohlen, einer Katze einen Tritt verpasst hat und seinem bevorzugten Opfer hinterhersetzt. Und das ist erst der Beginn dieser turbulenten Geschichte, die voller Witz und Wärme und echter Menschlichkeit steckt.
Richard Scrimger erzählt die Geschichte eines Nahtoderlebnisses als moderne Version der Christmas Carol von Charles Dickens. Scrooge ist diesmal ein jugendlicher Möchtegern-Krimineller aus schwierigen sozialen Verhältnissen. Jim wächst vaterlos auf, die Mutter, eine Alkoholikerin, vernachlässigt ihre Kinder. Cassy, Jims ältere Schwester, ist ein Freak und führt Gespräche mit Unsichtbaren.
Während er im Koma liegt, landet Jim im Jenseits an einem unangenehmen Ort, dem Hotel Jordan, grau, trostlos und schmuddelig. Scrimger mit seinem Sinn für schrullige Verspieltheiten erfindet nun eine beeindruckende Geisterwelt, die tiefe Wahrheiten über das Leben vermittelt, aber auch einem bizarren Computerspiel ent­stammen könnte. Da sind beispielsweise die Klagenden, Geister, die durch Traurigkeit an die Erde gebunden sind und die Lebenden warnen, er erzählt von Grabläufern, Wesen voller Angst, die Teil unserer Albträume werden, und fabuliert von den Schlächtern: Untote, die die Wut in diesem Zwischenreich festhält. Sie fühlen sich vom Tod angezogen. Diese Unerlösten führen Jim an Rückschauerlebnisse heran. Jim bekommt die Chance, in sein altes Leben zurückzukehren und einige Dinge in Ordnung zu bringen. Nach diesen abschreckenden Erlebnissen ist er wirklich entschlossen – und er will Marcie wiedersehen, ein junges Mädchen, das ebenfalls dem Tod gerade noch entging.
In Jim regen sich nach seiner Rettung neue Gefühle: Er freut sich über den Besuch seiner Mutter, ist höflich, hilfsbereit, mitfühlend, zeigt sich wohlwollend und unterstützend. Er entschuldigt sich bei jenen, die er misshandelt oder enttäuscht hat, und versucht (auf witzige Weise vergeblich) seine Diebstahlschulden zu begleichen. Jim sieht und hört die Geister immer noch – und er vergisst nicht, was uns nach dem Tod erwartet. Das könnte nun ein wenig des Guten zuviel sein, aber diese Verwandlung kommt glaubwürdig, authentisch und nie belehrend daher, denn Jims heiße Tagträume und seine Albträume bei Nacht, sein schwarzer Humor – ein Spiegel jugendlich-morbider Todesfaszination – und die subtil ausgearbeiteten Motive von Trauer, Verlust und Schrecken sind lebendig erzählt und bleiben im Gedächtnis. Jims Wandel berührt aber noch eine andere Frage: Was lässt uns gut, was böse sein? Jim kehrt nach seiner Jenseitserfahrung in sein altes, problematisches Leben zurück, und ist doch ein anderer, ein zufriedener Mensch. Wie schafft er das? Liegt es an der Liebe zu Marcie, der er nach einem nichts weniger als wahnwitzigen Showdown wieder begegnet?
Koma ist gedankenvoll, aufregend, traurig und lustig und oft alles zugleich – ein temporeiches, unterhaltendes Leseabenteuer. Erst wenn man weiß, dass das eigentliche Motiv für diesen Roman die reale Zeitungsmeldung über eine Kindesmisshandlung war, vom entsetzten Autor auf literarischem Weg «geahndet», lässt sich das Ausmaß an Heiterkeit und Zärtlichkeit begreifen, das Scrimgers Jim zu einem großen Charakter werden lässt.

Dieses Buch ist gedankenvoll, aufregend, traurig und lustig und oft alles zugleich – ein temporeiches, unterhaltendes Leseabenteuer.