Liesbeth Bisterbosch

So lange so schön …

Nr 149 | Mai 2012

… und jetzt so schnell verschwindend.

Venus, der auffallende Abendplanet, verabschiedet sich im Mai ziemlich abrupt. Anfang Mai ist sie noch in der Phase des größten Glanzes. Sie wirkt sehr nah, als könnte man sie vom Himmel pflücken. Der sternübersäte Abendhimmel erhält durch sie gewissermaßen ein Zentrum. Erst nach Mitternacht, vier Stunden nach der Sonne, geht sie unter. Mitte Mai steht sie gegen Ende der Abenddämmerung bereits zu tief, um noch prunken zu können. Die Situation ändert sich jetzt mit jedem Abend rascher. Venus geht jeweils in einer viel früheren Phase der Abend­dämmerung unter. Ende Mai kann man sie nur noch kurz nach Sonnenuntergang tief im Nordwesten erblicken.
Unsere Abbildung (Quelle: Sterrengids, De Koepel, Utrecht) zeigt die (unsichtbare) Position der Sonne am 27. März und am 30. Mai (eine halbe Stunde nach Sonnenuntergang). Am 27. März hatte sich Venus am weitesten von der Sonne entfernt (46°). Die ge­strichelte Linie zeigt, dass die Periode zwischen dem Er­scheinen am Abendhimmel (im November 2011) und dem 27. März viel länger dauerte als die Zeitspanne zwischen dem 27. März und ihrem Verschwinden vom Abendhimmel (Ende Mai). Venus nähert sich der Sonne immer schneller.
Für die Griechen war dieses merkwürdige Verhalten der Venus – die sie als Körper oder Sitz ihrer Liebesgöttin ansahen – Anlass für astronomische Studien. Seit ungefähr 600 v. Chr. bildeten sie sich eigenständige Gedanken darüber. Der Planet musste sich offen­sichtlich viel näher bei der Erde befinden als das Stern­gewölbe. Einige Jahrhunderte später begriffen sie, dass der Abend­planet nicht immer gleich weit von der Erde entfernt bleibt, sondern sich ihr annähert! Und ungefähr 200 v. Chr. konnten sie durch geometrische Verfahren den Tag voraussagen, an dem die Venus zwischen Erde und Sonne steht (in diesem Jahr ist der
6. Juni der Tag der Konjunktion).
Um 600 v. Chr. begannen mehrere Völker in Mexiko und Guatemala damit, einen 260-tägigen Kalender zu verwenden.
20 sogenannte «Tageszeichen» wurden mit den Zahlen 1 bis 13 kombiniert. Jeder Tag hatte eine andere Qualität. Zwischen ihrer Zahlenmystik und dem aktuellen Geschehen am Himmel gab es keinerlei Zusammenhang. Zwei andere Kalender (mit jeweils 365 und 360 Tagen) kamen später in Gebrauch. Sie wurden nicht mit dem jeweiligen Sonnenjahr synchronisiert. Dank der besonderen Art, wie die Zahlen aufgeschrieben wurden, geht das Addieren großer Zahlen sehr leicht von der Hand. Die sächsische Landesbibliothek in Dresden besitzt eine Maya-Handschrift (um 1250 gefertigt), deren Texte über die Venus ein Rechenschema enthalten, mit dem sich jeweils 151.480 Tage im Voraus bestimmen lassen, an welchen Kalender­tagen Venus erscheinen und verschwinden wird. Es bedarf dazu keiner weitergehenden Kenntnisse in Mathematik oder Astronomie. Das Rechen­schema ist jedoch recht grob, und so kann es sein, dass Venus während der berechneten Unsicht­barkeits­phasen dennoch am Himmel kräftig leuchtet. Die Bedeutungen, die die Maya den einzelnen Kalendertagen gaben, klingen geheimnis- und verheißungsvoll: «der Jaguar ist aufgespießt» oder «das Unheil der Schildkröte» …