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Brigitte Werner

Ich, Jonas, genannt Pille, und die Sache mit der Liebe

Nr 149 | Mai 2012

gelesen von Simone Lambert

«Das Wunderbare an Opa Leo ist, dass er sich mit allem so viel Zeit lässt, auch mit den Fragen», denkt Jonas, als er in einer lauen Frühlingsnacht seinen Großvater heimlich besucht. Pille, wie der ein wenig mopsige Junge liebevoll genannt wird, findet bei seinem Opa Trost über das Verschwinden seines Vaters. Auch der Großvater fühlt sich verlassen, denn seine Frau ist gestorben. Opa Leo ist aber ebenso geduldig, genau und ehrlich, wenn es um Antworten auf die vielen Fragen von Jonas geht.
Es ist Mai, ein paar Tage vor Jonas’ zwölftem Geburtstag – eine Zeit, in der alles möglich ist. Opa Leo zieht aus seinem vereinsamten Haus in ein Altersheim. Entgegen Jonas’ Befürchtungen zeigt sich, dass die alte Villa am Kanal ein schöner Ort ist und dass dort viele liebenswerte Menschen leben. Jonas besucht und be­gleitet seinen Opa, sie machen einen Ausflug mit der schweigsamen, zarten «Frau Krümel», die im Rollstuhl sitzt, und sie lernen Herrn Skazlicz aus Ungarn kennen, einen Sinti mit einer düsteren Geschichte, der Elvis-Presley-Fan ist. Opa und Enkel organisieren einen rauschenden Konzertabend mit ihm im Garten der Villa. Und dann passiert etwas Unerwartetes: Jonas verliebt sich zum ersten Mal – und das in die feenhafte Lilli …
Das «Dornröschenschloss» am Kanal wird zum Schauplatz der märchenhaft anmutenden Erzählung. Es wird zum Heim für die Familie, die sich hier (neu) findet. Brigitte Werner ist stark darin, über das Wunder der Begegnung und der Gemeinschaft zu schreiben. Schon in Denni, Klara und das Haus Nr. 5 oder in Wum und Bum und die Damen Ding Dong finden sich zufällige Mieter­ge­meinschaften zu innigen Wahlverwandtschaften zusammen.
Diese Geschichte, mal traurig, mal mitreißend fröhlich, ist eigentlich gar keine. Nicht, dass ihr nicht eine geschickte Dramaturgie zugrunde läge; nicht, dass es keine Konflikte gäbe; aber bei Brigitte Werner sind Verluste oder Veränderungen vorrangig Anstöße für Erlebnisse und Gefühle. Konflikte werden gelöst, auf ehrliche und verständnisvolle Weise, statt Streitdialoge zu entwickeln oder Sozialdramen zu entwerfen. Gefühle werden in einer einzig­artigen, kreativen, frischen Weise ausgedrückt. Brigitte Werner lässt Jonas erzählen, und sie verleiht ihm eine expressive Sprache mit unverbrauchten Metaphern: «In Opa Leos Augen wurde es dunkel, als hätte er das Licht ausgeknipst.» Auch Opa Leo mag Wörter, wie Jonas, und beide lieben es, den treffendsten Ausdruck für ein Gefühl, eine Wahrheit zu finden.
Jonas hat Asthma, seit sein Vater die Familie verlassen hat. In Momenten der Aufregung beschert es ihm Atemlosigkeit.
Das ist zugleich ein Bild für seine Hyper­sensibilität und seine ge­steigerte Aufmerksamkeit, die er dank seines Großvaters in Selbst­vertrauen und Kraft verwandeln kann. Und in Liebe.
Fantasie und Poesie sind das eigentliche Geschehen in diesem «Familienbuch», wie die Autorin es nennt. Die drücken sich nicht allein in der überbordenden Sprache aus, sondern auch in schwelgend-romantischen Bildern und in der Freude an den Spleens der Menschen. Das Buch ist eine Hommage an einen imaginierten Großvater, einen Schelm, einen Poeten, einen Träumer, einen Weisen, der Sinn für das Unsichtbare hat. Und das ist stärker als der Tod.

In diesem «Familienbuch» ist Fantasie und Poesie das eigentliche Geschehen. Und es ist eine Hommage an einen imaginierten Großvater, einen Schelm, einen Poeten, einen Träumer, einen Weisen …