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Unverhofftes Glück

Susanne Lin

Nr 150 | Juni 2012

Kennen Sie das? Ein Termin wird abgesagt, eine Verabredung fällt aus und plötzlich tut sich ein neues Zeitfenster auf, ein Freiraum, in dem Unvorhergesehenes, Ungeplantes stattfinden kann.
In meinem Fall war das eine plötzlich abgesagte Reise, was unverhoffter Weise einen freien Abend zur Folge hatte und die Möglich­keit, diesen neu zu gestalten. – Hatte ich nicht schon am Morgen in der Zeitung gelesen, dass es ein Konzert geben sollte im Rahmen des Festivals «Stuttgart Barock», unter anderem mit Hille Perl und als Programm Bibers Rosenkranzsonaten …?
Hille Perl hatte ich schon gehört, war begeistert von ihrem kraftvoll innigen Spiel der Gambe, von Biber kannte ich immerhin die Passacaglia. Also ließ ich mich auf Neues ein und tauchte für mehr als drei Stunden in die 16 Sonaten unter – und es eröffnete sich mir eine Klangwelt, die mich bis ins Tiefste berührte.
Die Rosenkranzsonaten sind keine Kirchenmusik, auch wenn die Titel der einzelnen Sonaten auf den religiösen Kontext verweisen. Sie sind zum einen den einzelnen Stationen im Leben Christi gewidmet, zum anderen im dritten Teil der Marienverehrung. So darf man vermuten, dass diese Musik als «Musik für die Kammer» dem Widmungsträger in seiner inneren Beschäftigung mit dem Rosenkranz zur persönlichen Erbauung dienen sollte.
Es ist vor allem die Violine, die durch die meisterhaft zur Aus­führung gebrachten klanglichen Wirkungen der Skordatur den Mysterien des Rosenkranzes Ausdruck verleiht. (Bei der Skordatur wird eine oder mehrere Saiten anders gestimmt als normal; durch diese Über- oder Unterspannung eröffnen sich dem Instrument andere Klang­möglichkeiten.) – Auch dem heutigen Zuhörer kann dieser Kontext zum Erlebnis werden, so zum Beispiel in der siebten Sonate, der Geißelung Christi. Da meint man zum einen in der Sarabande die Peitschen­schläge zu hören, während in der Variation die Stille herbeigeführt wird, sodass sich der Schmerz Christi ausdrücken kann.
In allen Sonaten findet man so den Wechsel der Bezüge zwischen Innen- und Außenerleben. Die Geige (Daniel Sepec) scheint sich oft klanglich an den Melodiebögen der anderen Instrumente zu reiben, explodiert in rasanten Tempi, dann ist es wieder die Gambe (Hille Perl), die im Wechselspiel mit der Laute (Lee Santana) in eine tiefe Innerlichkeit führt, abgestützt auf das Continuo (Michael Behringer).
Und dann zum Abschluss die Passacaglia für Violine solo – noch einmal werden die Empfindungsbögen hereingeholt, die beim Zuhören geweckt wurden: Schmerz, Freude, Melancholie, Jubel.
Warum beschließt Biber diese letzte Sonate ohne Continuo? «Durch die einsame Geige zeigt er den Menschen, wie er nach all dem Erlebten auf der Erde zurückbleibt – aber Hoffnung schöpfen kann, weil er um diese Dinge, die gerade passiert sind, weiß.» So jedenfalls die Deutung des Geigers Daniel Sepec, die er fast überirdisch schön durch sein Spiel zu vermitteln weiß.
Welch ein hohes Können der Musiker, welch ein Zusammenspiel, welch eine Leistung, über mehr als drei Stunden in einer unglaublichen Präsenz dieses künst­lerische Niveau zu halten!
Der Abend hielt noch mehr Unvorhergesehenes bereit: Nach der zweiten Pause wurde diesen herausragenden Künstlern der «Preis der deutschen Schallplattenkritik 2011» für eben diese Ein­spielung der Rosenkranzsonaten von Heinrich Ignaz Franz Biber verliehen. – Zu Recht, denn diese prämierte Aufnahme steht dem Konzert­erleben in nichts nach.
So möchte ich Ihnen die Doppel-CD sehr ans Herz legen. Kaufen Sie diese und warten Sie, bis auch Ihnen unverhofft freie Stunden geschenkt werden, um sich mit diesen herausragenden Künstlern in die meditative Stimmung der Rosenkranzsonaten zu versenken!