Maria A. Kafitz

Tea Time – a Love Story

Nr 151 | Juli 2012

«Ist Liebe ein zartes Ding? Sie ist zu rauh, zu wild, zu tobend und sie sticht wie Dorn.» Wenn wir diese Zeilen, diese Worte lesen, die Shakespeare seinem jungen Liebenden in den Mund legte, wenn wir dieses Bangen und Hoffen, diesen ersten Schmerz unstillbarer Sehnsucht vernehmen, erinnern wir uns – und hoffentlich nicht nur an die schulische Pflichtlektüre Romeo und Julia.
Während William Shakespeare in seinem Drama von 1595 jene un­glücklich Liebenden durch die engen Straßen im norditalienischen Verona taumeln ließ, torkeln sie 2012 zwar unliterarisch, aber in ihrer scheinbaren Ausweglosigkeit gleichsam dramatisch durch die verwinkelten Gassen der südenglischen Kleinstadt Corsham. Sie heißen nicht mehr Romeo und Julia, sie heißen Josh und Anna – und sie wollen einander, doch sie sollen auseinander sein.
Ganz gleich, ob man aufgewühlt und frisch verliebt, wohlig und hingebungsvoll liebend oder auch glücklich und willentlich nur mit sich allein durch die Straßen, die Sträßchen englischer Kleinstädte taumelt, torkelt oder trippelt – die Sinne suchen hier jene Orte, die so verführerisch nach Tee und Kuchen duften. Und finden sie. Überall. Und an der Quelle dieser verheißungsvollen Gerüche wartet noch etwas auf den Suchenden, das ihn unwiderstehlich dazu verführt, die reale Zeit vergessen zu wollen: Nostalgie. Ihr begegnet man allenthalben auf der Insel. Sie scheint neben dem herrlich bösartigen und dennoch stets charmanten schwarzen Humor, der Kultivierung alles Blühenden und der Leidenschaft für diverse Ball- und Kugel­sportarten die große Konstante im Wesen eines jeden Briten zu sein. Er hegt sie und pflegt sie wie seinen grünen Rasen.

Wohl kaum ein Ort im Königreich, der außerhalb von Schloss Windsor oder dem Buckingham Palace liegt, steht mehr für das Aus­leben dieses nostalgischen Grundbedürfnisses, dieses vergangenen und zugleich gegenwärtigen Lebensgefühls wie der «Tea Room». Hier stapeln sie sich, die alten Tassen und Kännchen der Großmütter, die Tortenständer und Silberdöschen der Urgroßmütter und anderer von anno dazumal. Hier hängen sie in schnörke­ligen Bilderrahmen an der Wand, die Urahnen und Königlichen, die verfallenen Schlösser und romantischen Landschaften. Und hier sitzen sie, die Briten von 2012, mit ihren Smartphones und Jacken von Jack Wolf­skin oder anderer «Überlebensausstatter» an Tischen mit weißen Tischdecken und frischen Blumen und genießen beim Tee ihr Sein.
Sicher würden auch Josh und Anna neben einem Besuch der sich flächendeckend ausbreitenden Kaffeehausketten händchenhaltend in einen Tea Room spazieren – die Gästeschar ist generationen­über­greifend und so bunt gemischt wie die Törtchen und Tee­service – allein, die erzwungene Heimlichkeit macht es unmöglich.
Ihre Eltern sind zwar keine verfeindeten Familien wie Shakespeares Montagues und Capulets, die danach trachten, diese Liebe zu verhindern. Nein, das scheint – zumindest in Europa, so ist zu hoffen – Vergangenheit. Es sind «nur» Standesdünkel zwischen Nord- und Südengland, zwischen Working und Upper Class, die dieser Jugend­liebe den Weg steinig und allzu steil machen. So erschaudernd es auch ist, dass nach der Landung auf dem fernen Mond und der Ver­netzung mit den entlegensten Orten der Welt dieser «Unterschied» immer noch Einfluss zu nehmen vermag, so versöhnlich ist die Gewissheit, dass besonders die zuletzt genannte Erfindung diese Zwangstrennung per Knopfdruck, per Touchscreen binnen Sekunden überwindet. Beim plauderigen Sitzen in der englischen Sonne (o ja, es gibt sie, allen gängigen Vorurteilen zum scheinenden Trotz – statistisch regnet es in London sogar weniger als in Frankfurt am Main) piept es neben Josh. Er hat für die Busreise aus dem nordenglischen Darlington und die Nächte in einem Bed and Breakfast nahe seiner Liebsten, der einzigen Tochter eines rang­­hohen Armeebediensteten, geduldig über ein halbes Jahr gespart – und wartet nun wieder. Es piept erneut: eine E-Mail von Anna! Und noch eine. Dass er beim Aus­sprechen der Sätze: «Ich kann wenigstens was von ihr lesen! Das bekommen die Eltern gar nicht mit», parallel mit diesem ganz gewissen Lächeln ihre Nachricht be­ant­wortet, lässt einen zwar ungläubig auf die blind tippenden Finger blicken, widerlegt aber zugleich ein weiteres Vorurteil: Männer – zumindest Jungs – können doch mehrere Dinge gleichzeitig tun. Sie können durchaus, wie es so «schön» heißt: multitasken!

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Sebastian Hoch

Mit den Briten und der Tea Time ist es im Grunde wie mit diesen beiden Familien: Für alle ist Tee, besonders am Nachmittag, Lebenselixier und Tagesfixpunkt. Für alle gilt, dass er nicht wie ein italienischer Espresso schnell und meist im Vorbeigehen genossen wird. Alle trinken nicht nur eine Tasse, sondern meist eine ganze Kanne (nur die nahen Iren toppen diesen Teekonsum) und verspeisen dazu irgendeine Form von Gebäck – oder mehrere davon. Aber manche bestehen eben darauf, dass nicht nur der Tee, sondern auch das Ambiente und der richtige Zeitpunkt entscheidend sind. Und so gibt es die feine, aber grundsätzliche Unterscheidung zwischen «Afternoon» und «High Tea»: Während der High Tea als Stärkung nach einem körperbetonten Arbeitstag mit üppigen Sandwiches, Gebratenem, reichlich Käse und Alltagsgeschirr fast schon einem Abendessen gleicht – und von vielen heute auch so genutzt wird –, lässt schon die Entstehung des Afternoon Teas keinen Zweifel mehr an seinem vornehmeren Ansinnen. Als vermeintlich leichtere Variante für die feine Gesellschaft war es keine Geringere als Anne, die siebte Herzogin von Bedford, die um 1840 diesen nun so urbritischen Tageshöhepunkt ins Leben rief. Die lange Zeit­spanne zwischen Breakfast (wir alle wissen, dass ein englisches Früh­stück im Grunde den ganzen Tag abdecken könnte) und Dinner bekam ihrem Kreislauf, mehr wohl jedoch ihrem Gemüt nicht. Zu Mittag servierte – wie konnte das passieren? – das Personal nichts, sondern platzierte nur Kleinigkeiten zur Selbstbe­dienung auf einem Buffet, und so ließ die Herzogin sich und ihren zahl­reichen blütenweißgekleideten Freundinnen gegen 16 Uhr zum Tee kleine, hübsch angerichtete Häppchen und mindestens zwei verschiedene Varianten Kuchen servieren.
Beim Servieren – und beim Verzehr – wurde und wird nichts dem Zufall überlassen, nichts der bloßen oder gar banalen Anhäufung von Nahrungsmitteln geopfert. Denn zum klassischen Afternoon Tea werden auf einer dreistöckigen Etagère folgende von unten aufsteigende Leckereien gereicht: 1. Sand­wiches (auf der Beliebt­heits­skala rangiert Gurken- vor Lachs- und Ei-Kresse-Sandwich). 2. Scones (das Mürbeteiggebäck der Briten schlechthin) mit Clotted Cream (dickem Rahm) und Marmelade (diese gilt es, will man sich nicht gleich als Unwissender vom Kontinent zu erkennen geben, unter der Cream zu verteilen). 3. Kekse und kleine Kuchen (Form, Farbe und verzuckerter Zierrat lassen süße Kitschherzen schon beim Anblick schneller schlagen).

Allein diese Form der Darreichung überlistet – zumindest für Momente – selbst den größten Schling­schlund des Planeten. Was so liebreizend und dekorativ, so appetitlich und sorgsam neben dem Tee­kännchen auf das Tischtuch platziert wird, kann niemand, wirklich niemand einfach so achtlos hinunter­schlingen. Und wer es doch könnte, der wird sich beim Betreten eines Tea Rooms wohl eher verlaufen haben und beim Anblick der ab und an sogar noch mit Schürze und Häubchen servierenden jungen Damen (und vereinzelten – natürlich häubchenlosen – jungen Herren) ohnehin schnell das Weite suchen.
An einem der Nachmittage könnte man fast glauben, Josh wäre zu solch einem Afternoon Tea geladen. Frisch geduscht und mit Hemd statt Kapuzenpulli steht er da und schaut gebannt auf sein Telefon:
Nur noch 15 Minuten – und dann kommt Anna! Drei Tage haben sie diesen Stunden entgegen­gefiebert. Haben Mittel und Wege gesucht – und gefunden, um endlich reale und nicht nur digitale Zeit miteinander zu verbringen. Sein Lächeln am Abend auf der Bank im schön angelegten Garten des Farmhauses, das seinen Gästen «Bed and Breakfast at its best» bietet, ist vielversprechend. «Er könne so wunderbar umarmen», habe sie gesagt. Mehr sagt er nicht – und sagt es dadurch doch. Während die eigene romantische Fantasie auf Reisen geht, unterbricht ein Piepen die launige Stille. Zerschellt die Freude am Anblick von Joshs lesendem Gesicht: «Sie kommt nicht noch einmal her. Es ist ihr alles zu viel. Sie kann das nicht. Wir sehen uns nicht mehr vor meiner Heimreise.» – «NEIN», schreit sogleich das eigene Herz, «nein und nochmals nein!»
Mit ähnlicher Vehemenz und Inbrunst stemmen sich auch Landladies wie Hayley Painter auf ihrer Merkins Farm bei Bradford-on-Avon oder Anna Roberts mit The Old Rectory Tearooms in Castle Combe gegen die nahende und in manchen Teilen schon übergeschwappte Coffeeshop-Flutwelle. Die eine erfüllte sich ihren Mädchentraum. Denn, so strahlt es fröhlich aus Hayley Painters Augen, sie konnte gar nicht anders: «Wenn Freunde uns besuchten, dann habe ich alles gegeben. Dann hatte ich die größte Freude daran, wenn alles wirklich perfekt war! Und perfekt heißt: altes Geschirr, Torten­ständer, Silberbesteck, Blumen in kleinen Väschen, stylische Accessoires allüberall. Und – je royaler, desto besser! Die anderen lächelten, ich aber eröffnete meinen eigenen kleinen Tea Room neben unseren Ferienwohnungen und dem Camping­platz.» – Ach ja, das ist noch so eine, allerdings ungeahnte «englische Schrulle»: Man campt – aus welchen Gründen auch immer – auf der Insel leidenschaftlich gerne. Bei Hayley kann man nun beides verbinden und betritt in ihrem kleinen Reich in der Tat eine Mischung aus Mädchen­zimmer und royalem Andachts­raum. Gepunktetes (mancher Mann kann zu dieser alles zierenden Mustervariante sein Leidlied singen) trifft auf Geschirr mit dem Konterfei von Queen Elizabeth II. Die Angestellten sind so freundlich, wie der Kuchen köstlich ist, und die Lage mitten auf dem Land, quasi im Nichts, ist abwegig im eigentlichen, nicht aber im übertragenen Sinne.

Zentral und in einem wahrhaften Bilderbuchort, das jüngst die historische Kulisse für den Film War Horse (deutsch Die Gefährten) unter der Regie von Steven Spielberg bot, liegt das Reich von Anna Roberts. Vor knapp zehn Jahren zog es sie aus der Weltmetropole London ins beschauliche Castle Combe. Aus den schon seit Beginn des 19. Jahrhunderts als Tea Room genutzten Räumlichkeiten (wunderbar, man muss erst klingeln, um eingelassen zu werden) in der Old Rectory, dem alten Pfarrhaus, hat sie ihr zweites Zuhause gemacht. Auf dem klassischen blau-weißen Teeservice kredenzt sie den unangefochtenen Klassiker einer kleinen Tea Time, den «Cream Tea»: Tee und köstliche, täglich selbst zubereitete Scones mit hausgemachter Marmelade und natürlich reichlich Clotted Cream, die sie extra aus Cornwall kommen lässt. Und auch ihr iranisches Ursprungszuhause mit Samowar und orientalischen Figürchen und Lämpchen hat sie passend in Teile des alten Gemäuers gebettet. «Wenn meine Familie aus dem Iran zu Besuch ist, dann trifft England den Orient. Dann mischt sich der Duft des Tees mit dem würzigen Aroma von beigemischtem Kardamom.» Ihr klarer, zuvor sehr direkter und offener Blick schweift kurz ab. Schaut mehr nach innen. Streift das Außen nur. Da ist sie wieder, diese liebliche Nostalgie, die in den Tea Rooms mit Händen greifbar scheint. Die einen sanft gefangen nimmt, ohne aufzuhalten, und die
die Geschwindigkeit der vorantreibenden Zeit für eine Tee­tassenlänge nichtig macht.
Und Josh und Anna? Sie haben sich noch einmal getroffen – in aller Öffentlichkeit. Sie haben einander in die Augen geschaut, heimlich die Hand gehalten und sich beim Abschied einen hastigen, einen verstohlenen Kuss gegeben. Auch wenn es nicht der romantischste aller Orte war, dieser Parkplatz hinterm Super­markt, an dem die Halte­stelle des National Express liegt, der Josh zurück in den Norden bringt, so war er es doch – für sagenhafte 30 Minuten.