Birte Müller

Lebst du noch – oder funktionierst du schon?

Nr 151 | Juli 2012

Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich das alles nicht schaffe.
Das alles, das ist die dauerhafte Belastung durch das behinderte Kind, das ist der Wunsch, auch dem nichtbehinderten Kind voll gerecht zu werden, das ist meine Berufstätigkeit, die Pflege von Partnerschaft, Freundschaften, Gruppen, Vereinen, das ist Haus­halt, Steuer, Be­hörden­kram – und die unendlich vielen kleinen und größeren Dinge, die im Alltag anfallen. Ach ja, natürlich sollte ich auch dringend etwas für mich tun!
Etwas für mich tun. Manchmal weiß ich gar nicht, wer das ist: ich. Manchmal habe ich jegliches Gefühl dafür verloren, was es überhaupt sein könnte, was ich für mich tun möchte. Das sind dann keine schönen Zeiten. Seit ich wieder in meinem Beruf als Bilder­buchillustratorin und Autorin arbeite, ist mein Ich wieder mehr zu mir zurückgekehrt, auch wenn ich spüre, wie sehr die Last des Alltags auf mein Ich drückt, aber immerhin spüre ich es. Das ist gut.
Übrigens muss man kein behindertes Kind haben, um mit dem Leben überfordert zu sein. Objektiv gesehen habe ich sogar noch Glück, denn ich DARF wenigstens jammern darüber, wie an­strengend alles ist.
Meine Mutter hatte mit 30 Jahren schon vier Kinder (ein Alter, in dem ich noch munter mit Selbstfindungsreisen beschäftigt war). Ich kann mich nicht erinnern, dass sie sich mal beklagt hat (außer darüber, dass sie uns alles hinterherräumen musste). Sie hatte keinen Beruf oder Hobbys, in denen sie sich «verwirklicht» hätte, hatte kein eigenes Zimmer, war definitiv nie allein im Urlaub, zur Massage, Shoppen oder beim Friseur, um sich mal «was Gutes» zu tun. Und trotzdem habe ich das Gefühl, dass meine Mutter vielleicht zufriedener war als die meisten Mütter, die ich heute so treffe. Wenn ich versuche, ihr zu entlocken, dass sie doch sehr ge­litten haben muss damals, sagt sie höchstens: «Das war eben so, wir kannten doch gar nichts anderes.»
Meine Mutter hat einfach immer «funktioniert» – so wie ich heute, nur dass ich dieses Gefühl oft unerträglich finde.
Vielleicht liegt genau hier der Knackpunkt. Wir erwarten von unserem Leben heute etwas anderes als die Generation unserer Eltern. Wir Mütter heute wollen perfekt sein und das perfekte Kind haben, wir wollen tolle Jobs haben, in tollen Wohnungen wohnen, selber toll aussehen, tolle Partnerschaften führen, tolle Urlaube machen, toll feiern gehen und dabei bitte auf keinen Fall Cellulitis an den Beinen oder Falten im Gesicht bekommen! Wir sind die Opfer unserer eigenen Ansprüche an unser Leben. Man kann das alles nicht schaffen!
Hat sich meine Mutter damals gefragt, ob sie eine gute Mutter war? Ich denke nicht, sie war eben einfach Mutter – und genau das war gut. Ich dagegen will eine gute Mutter sein UND auch noch mein eigenes Leben haben. Dabei ist das Muttersein doch mein eigenes Leben. Meine Mutter war wahrscheinlich nicht glücklicher, als ich es heute bin. Und ich will auch nicht tauschen, denn eines ist sicher: Mit einem behinderten Kind habe ich es heute einfacher, als meine Mutter es in den 70ern gehabt hätte! Und ich muss weinen, wenn ich an das Leid der Mütter denke, die noch eine Generation vorher in Hitlerdeutschland einen kleinen Willi bekommen haben.
Trotzdem – ich beneide meine Mutter schon manchmal, dass sie in einer Zeit gelebt hat, in der man nicht dachte, man müsse seinen Kindern zu Hause noch «etwas bieten», und in der man in ein Café gehen konnte und sich dort nicht entscheiden musste, ob man
seinen «Iced Caramel Macchiato» mit doppeltem Espresso und fettfreier Sojamilch «Tall», «Grande» oder «Venti» haben möchte …