Charlotte Fischer

Silver Surfer – ein Großvater reitet die Wellen

Nr 152 | August 2012

«Schaut mal, Kinder! Der Großvater steht wieder da wie die Freiheits­statue!», ruft Tine ihren vier Mädchen zu und erntet ein verlegenes Brummen von ihrem Schwiegervater, der mit seinem Windmesser auf der Düne des Ringköbingfjords steht. Dass seine andere Schwiegertochter nun auch noch mit dem Fotoapparat seine Künste festzuhalten versucht, erntet ein noch viel tieferes Brummen.
Großvater Rolf ist ein «Silver Surfer» mit seinen 82 Jahren. Seit 25 Jahren surft er jetzt. Angefangen hat alles, als sein jüngster Sohn – damals mit 14 – in den Sommerferien einen Surfkurs am dänischen Ringköbingfjord machte und Rolf Fischer keine Lust hatte, ihn zum Wasser zu fahren, zwei Stunden zu warten und wieder zurückzufahren. Seine Frau Waltraud – und wer kennt den eigenen Mann besser? – fürchtete damals, dass die langen Wartezeiten zu «Maulereien» führen würden und riet ihm, doch selbst aufs Brett zu steigen. «Ich bin ein verhinderter Segler, musst du wissen», sagt er, als ich ihn nach der Leidenschaft frage, die ihn damals gepackt und nie wieder losgelassen hat. «Das Segeln konnte ich mir nicht leisten – mit Familie ...»
Man muss sie gesehen haben, diese Mühsal, wenn der 82-Jährige Brett, Mast und Segel aufs Autodach wuchtet. So ein Brett ist schwer. Richtig schwer – altersunabhängig! Man muss sie gesehen haben, diese Sorgfalt, wie er alles vertäut mit Gurten von der einen und von der anderen Seite. Wie er am Wasser ankommt und erst einmal nur schaut ... Lange den anderen Surfern zuschaut, um zu entscheiden, welche Segelgröße wohl die richtige sein wird an diesem Tag.
Wenn er die ganze Ausrüstung wieder entzurrt und dabei im heftigen Wind das Brett gegen den Winddruck sichert, damit es sich nicht selbstständig macht und übers Ufer fegt wie ein Geschoss, kämpft er auf Augenhöhe den gleichen Kampf wie manch 20-Jähriger in der Parkplatznachbarschaft!
Man muss gesehen haben, wie Rolf bei 4 bis 6 Windstärken sein Segel trimmt, wie er ringt, damit es sich nicht in den Wind dreht, keine Knicke bekommt. Wie er auf der durchgeweichten Ufer­wiese sitzt und unter allergrößter Kraftanstrengung den Mast mit dem Flaschenzug biegt, bis das Seil in der Mastfußklemme ein-­rastet. Und wie er sich bei Eiseskälte in den vom letzten Surftag noch nassen Neoprenanzug zwängt – auf der Heckstoßstange
seines Autos sitzend und um jeden Millimeter kämpfend, wenn er das kalte Material über seinen Körper zieht.
Ja, man muss gesehen haben, wie er dann das schwere Brett zum Ufer hievt, mühselig mit klammen Fingern das Segel befestigt und den schwierigen Spagatschritt aus dem Wasser aufs Brett immer und immer und immer wiederholt, bis das Segel haargenau im richtigen Winkel steht und den richtigen Winddruck hat, um Fahrt zu gewinnen. Los geht’s!

Was für ein Kraftakt!

Wenn die Fahrt dann schließlich und endlich glückt, bleiben die fulminanten Stürze nicht aus. Abenteuerliche Stürze für einen 82-Jährigen! Doch was ihn vom Brett wirft, wirft ihn nicht wirklich um, denn irgendwo draußen auf dem Fjord wiederholt sich der Vorgang, bei dem Brett und Segel in haargenau die richtige Position gedreht werden, der Spagatschritt gewagt und die Fahrt wieder aufgenommen wird. Weiter geht’s!

Wenn Rolf aus dem Wasser kommt, ist die Nase blau, aber die Augen strahlen. Die größte Anstrengung steht ihm noch bevor: Raus aus der engen Neoprenausrüstung, rein in die von seiner Frau gestrickten Socken und in die Windschutzjacke; Segel, Mast und Brett zurück aufs Autodach, allein vertäuen und verzurren im Druck des Nordseewindes, der das Brett immer wieder heben will. So hat Rolf es mit damals 57 Jahren gelernt (trotz seines arthritischen Fußes), um eine gemeinsame Aktivität mit seinem jüngs­ten Sohn zu haben. Sein ganzes Leben scheint ihn vorbereitet zu haben darauf, dass er selbst in seiner Freizeit keine Mühe, keine Kraftanstrengung und keine Geduldsprobe scheut.

Auf dem Fahrrad ins selbstbestimmte Leben

Rolf wurde 1929 in Bismark geboren, ist später mit den Eltern nach Stendal gezogen. Sein Vater war Direktor der landwirtschaftlichen Schule und hatte im Krieg seinen Kommandostand auf einem zum Vorpostenboot umgebauten Fischerboot. Als Rolf 15 Jahre alt war, floh seine Mutter mit ihm und den beiden jüngeren Geschwistern mit dem letzen Zug über Berlin nach Nordfriesland.
Nach der Flucht und aus der Not heraus wollte die ganze Familie nach Namibia auswandern, wo Rolf eine Farm bewirtschaften sollte. Aber er wollte Medizin studieren. Die bereits bezahlte Schiffspassage nach Afrika blieb ihm nur deshalb erspart, weil sein Vater plötzlich schwer erkrankte und Namibia in eben jener weiten Ferne blieb, die Rolf zumindest für sich wünschte.
Er fuhr mit einem alten Fahrrad – einen Koffer mit dem guten Anzug auf dem Gepäckträger – von Nordfriesland aus in Richtung Süden, um sich an verschiedenen Universitäten persönlich zu bewerben: Göttingen, Frankfurt, Heidelberg, Marburg, Freiburg, Tübingen, Würzburg ... Am Bodensee sah er zum ersten Mal die Berge – schneebedeckt. Er war zutiefst beeindruckt. In diesem Moment sprang der Funke für eine weitere spätere Leidenschaft über: das Skifahren.
Aber zunächst begann sein Medizinstudium in Würzburg. Von dort wechselte er nach Hamburg, weil er dort Arbeit finden konnte, um sein Studium zu finanzieren. Rolf half beim Teeren der Elbbrücke und, was er als außerordentlich anstrengend und gefährlich empfand, beim Teeren bombengeschädigter Dächer: An einem Joch über der Schulter zwei Eimer mit kochendem Teer eine Wendeltreppe hoch – und bei jedem Überschwappen den kochenden Teer auf Kleidung und Haut. «Ich musste eben arbeiten, was kam», sagt er nüchtern.
Nach dem dritten Semester durfte er Leistungsprüfungen ab­legen, die ihm eine Studiengebühren-Ermäßigung eintrugen. Er suchte sich die als «scharf» verschrienen Professoren aus, um deren Prüfungs­methoden für das spätere Examen kennenzulernen. Alles andere als Sachlichkeit war ihm von jeher fremd.
In dieser Zeit wohnte Rolf in vielen verschiedenen Hamburger Unterkünften. Wenn er umzog, tat er das mit der S-Bahn. Was er besaß, passte in zwei Aktenmappen.

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Fotos: © Charlotte Fischer (www.lottefischer.de)

In einer der Hamburger Unterkünfte lernte Rolf Waltraud kennen, seine spätere Frau. «In vorbildlich langsamer Weise», wie einer seiner Söhne – der auf andere Weise mein Mann wurde – augenzwinkernd kolportiert. Und auf keinem Familienfest darf der Sketch fehlen, in dem Rolf sich im Doppel-Klepperfaltboot auf der Elbe behutsam seiner Waltraud nähert.
Kurz nach der Hochzeit heuerte Rolf für ein halbes Jahr als Schiffsarzt auf einem Schrotttanker an. Danach bekam er seine erste Anstellung am Barmbeker Krankenhaus – zunächst in der Pathologie, später als Internist und Assistenzarzt. Er baute eine Abteilung für nierenkranke Patienten auf und übernahm diese später als Chefarzt. Als Erster führte er die «Hämodialyse» ein und erntete tiefe Dankbarkeit von seinen Patienten, die für ihn immer der größte Ansporn waren. Wissenschaftliche Betätigung empfand er als dröge.
Drei Söhne und zwei Töchter wuchsen in dem Hamburger Haus auf, das Rolf auf dem Grundstück seiner Schwiegermutter baute. An jenem Ort, wo er Waltraud als Student kennengelernt hatte.
Und seit er die Berge gesehen hatte, war klar: Die Winterferien wurden in der Schweiz verbracht, und zwar skifahrend. Mit Sack und Pack. Zunächst per Bahn, später mit einem VW 1600 Variant: sieben Personen im Auto, vier Kinder auf der Rückbank, der Kinderwagen mit dem schlafenden Nesthäkchen im Kofferraum, Skistiefel auf dem Dach, Skihosen mussten während der Fahrt getragen werden. Heute undenkbar – in der unbeschadet überstandenen Erinnerung wunderbar!
Seit 35 Jahren fährt die Fischer-Familie im Sommer an die dänische Nordseeküste und zum Ringköbingfjord, wo die Leidenschaft fürs Surfen ihren Anfang nahm.
Beruflich hatte Rolf Fischer nie einen anderen Wunsch gehabt, als Arzt zu sein. Das war ihm Beruf und leidenschaftliche Berufung. Aber mit dem ersten Tag des Ruhestandes vor 15 Jahren hängte er seinen Kittel an den Haken und wandte sich dem zu, was ihn immer auch begeistert hatte: seiner Querflöte, seinen Büchern, dem Theater und vor allem der Natur. «Luft muss ich haben», sagt er. Gefrühstückt wird in Dänemark nach dem Morgenbad in der Nordsee und in Hamburg nach dem Morgenlauf. Erst dann kommt der Morgenkaffee und die Lesung im Radio. Zumindest, wenn Rolf und Waltraud nicht gerade unterwegs sind zu den Enkeln zwischen Hamburg und der Schweiz oder unterwegs nach Norwegen, Island und Grönland – der Land­schaft und den Lichtstimmungen zuliebe.

Ein Fjord – drei Generationen

Zu seinem 80. Geburtstag schenkten die drei Söhne Rolf ein neues, besonders leichtes Segel, das die Herstellerfirma mit gesponsert hatte, weil sie ihre Freude an diesem rüstigen Silver Surfer hatte.
Großer Treffpunkt ist nach wie vor jedes Jahr die dänische Nordseeküste: Rolf und Waltraud, die drei Söhne, zwei Schwiegertöchter, fünf Enkelkinder und ein Pflege-Enkelkind bewohnen alljährlich mindestens drei Ferienhäuser in Henne Strand. Sobald ein Enkelkind alt genug ist, um auf einem Brett zu balancieren, schenken Rolf und Waltraud ihm einen Surfkurs auf dem Fjord. Und so begegnen sie sich auf dem Wasser – die drei Generationen: Rolf, der Silver Surfer, mit seiner unvergleich­lichen Ausdauer und dem unerschütterlichen Gleichmaß, mit dem er den Fjord surfend bemisst; immer wieder rasant überholt und gekreuzt von seinem Sohn Martin, der die Surfleidenschaft mit seinem Vater teilt und sie übertrifft, indem er jede freie Minute auf dem Wasser verbringt. Pausen macht Rolf nur, um einem der Enkelkinder einen Surfratschlag zu geben. «Keiner erklärt den Beachstart so gut wie Großvater!», beteuert unser Sohn, der sich auf dem Ringköbingfjord genauso tummelt wie sein Bruder, die Cousinen und die Onkel.
Nur das kleine Pflege-Enkelkind erschrickt kurz und heftig, als ein schwarzer Kapuzenmann dem Wasser entsteigt. Erst als die Neoprenkapuze in Großvaters Nacken rutscht, gleitet ein er­leichtertes Strahlen über Leonies Gesicht.
Waltraud genießt die Freiräume, die ihr Rolfs Surfleidenschaft einträgt. 19 Uhr ist allerdings Deadline. Später soll er nun wirklich nicht heimkommen! Aber morgens packt sie ihm die Stullen in den «Surfkorb», den sie in einem Augsburger Korbwarenladen für ihn erstanden hat. Seine teilweise zerfledderten Surfanzüge flickt Rolf jedoch selbst und zerbricht dabei regelmäßig Waltrauds Nadeln. Aber was sind schon Nadeln, wenn ein Silver Surfer dafür seinen perfekten Tag erlebt!
«Das Spiel mit den Elementen – mit dem Wind und dem Wasser, das ist es, was mich fasziniert!», sagt Rolf. «Beim Surfen, weißt du, bist du ganz nah dran – näher noch als beim Segeln. Ein winziger Fehler und du stürzt. Du musst vollkommen konzentriert sein, darfst dir keinen Fehler leisten. Jeder Fehler führt zum Sturz.»
Sagt’s und wuchtet Brett, Mast und Segel vom Autodach und zwängt sich in den Neoprenanzug, um in unerschütterlichem Gleichmaß über den Fjord zu gleiten.