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Paul Biegel

Nr 153 | September 2012

Zaubergärten aus Kindheitstagen

Manchmal bekomme ich einen Sehnsuchtsanfall. Er ist wie ein heißer Fieberschub aus Kindheitstagen. Ab 38,2º durfte ich im Bett liegen bleiben. Der vollkommene Luxus in einer Familie mit zehn Kindern! Mutter brachte mir Bücher, stapelweise, weil sie wusste, dass Lesen zu meiner vorzeitigen Genesung beitrug.
Jetzt, als erwachsene Bibliomanin, versuche ich fiebrige Sehn­suchts­schübe ähnlich auszukurieren. Die eigene Bibliothek ist wieder pure Medizin. Bücher in der niederländischen Mutter­sprache helfen meistens.
Die Sonne scheint auf meterhohe Hecken mit dicken weißen und lilafarbenen Rhododendron-Blüten in meinem Garten, die – schwer vom letzten Regenguss – an den Zweigen hängen. Plötz­lich ist mir nach Paul Biegel zumute, der in seiner Kindheit Trost und Geborgenheit im elterlichen Garten fand. Ich sehne mich nach der unwiderstehlichen Verzauberung, die von jedem seiner fast 50 Bücher ausgeht.
Im Regal finde ich Eine Geschichte für den König, blättere, stelle es wieder hin. Daneben Der kleine Kapitän, in dem so viel von Paul Biegels Kindheit steckt. Wieder blättere ich und sehe und höre Paul als Kind-Kapitän, unterwegs auf dem selbstgebauten Schiff, unterwegs in seiner magischen, mystischen Welt, die er sich als Jüngster von neun Geschwistern in Traumstunden ausdachte. Weit wegzufahren von zu Hause, dorthin, wo es grenzenlose Möglich­keiten der Vorstellungskraft gibt. Dorthin, wo mit Fabelwesen, Tieren und Pflanzen gesprochen wird.
Ich erinnere mich daran, was er mir in Flensburg über seine Kindheit erzählte. Sein Zuhause war eine riesige Villa, mitten in einem parkähnlichen Garten. Der schwerbeschäftigte Vater versuchte, wie mein Vater auch, hin und wieder mit kleinen Spielen oder gemeinsamem Musizieren bei den Kindern «etwas gutzumachen». Die durchorganisierten Mütter fanden dennoch Zeit, uns mit Geschichten, Vorlesen und Büchern zu beglücken. In schier endlosen Kindheits-Paradiesen legten sie Grundlagen für eigene Erzählungen, die später als reife Früchte geerntet und aufgeschrieben wurden. Paul verkroch sich im Garten, in Einbau­schränken und dämmerigen Nischen, irgendwo auf dem Dach­boden. Dort wurde gelesen, geschrieben, dort durfte die Fantasie unerschöpflich sein.
Ich nehme das Buch Hase in die Hand, öffne es behutsam und lese die Widmung, die Paul 1984, am Tag der Verleihung des Deutschen Jugendliteraturpreises in Flensburg, hineinschrieb.
Ich puste eine dünne Staubschicht nach oben, die in den Sonnen­strahlen auseinanderwirbelt. In den tanzenden Stäubchen lächelt Paul mir zu, der beim Schreiben dieser Widmung kicherte und dabei an all die liebenswerten Kobolde, Räuber, Feen, Piraten und Prinzessinnen seiner Geschichten gleichzeitig erinnerte.
«Weißt du eigentlich, was ich hier genau soll?», fragte er mich verschmitzt. «Eigentlich sehe ich lieber Tiere in der Natur als all die vielen Menschen hier.» – «Dürfen es auch Bücher sein?», erkundigte ich mich vorsichtig. Als er erleichtert schmunzelte, brachte ich ihn zu einer der schönsten Kinderbuchhandlungen, zu Hilary, in einem historischen Hinterhof, wo es für ihn wie in einem Zaubergarten war.
Heute nehme ich Hase als Medizin und gehe hinunter in den Zaubergarten hinter unserem Haus. Auf Hase warten nämlich alle Tiere in einem verwilderten Garten. Er soll zurückkommen und ihnen Ordnung bringen, Ruhe, Glück.
«Paul», sage ich leise, «ich wünsche Kindern deine klugen, hin­reißenden, lebensweisen Bücher. Ich wünsche ihnen, dass sie mit Kapitän Paul segeln dürfen, weit, weit weg, so lange wie möglich und noch länger – und irgendwann durch dich Hase finden.»

von Marie-Thérèse Schins