Horst Hamann

America: Seh-Sucht, Fernweh und der F 250

Nr 155 | November 2012

Dem Sonnenuntergang hinterher

«Cross Country». Wie viel Magie und Versprechen liegt in diesen Worten – nicht nur für Amerikaner, sondern vor allem für einen «Sentimental Fool» wie mich, den chronisch das Fernweh plagt und der dem Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit nie widerstehen konnte.
«Abgenutzte Floskeln», wird der Unwissende sagen. Aber wehe dem, der schon einmal die Gelegenheit hatte, im Land der unbegrenzten Highways den «Cruise Control»-Schalter umzulegen, um zum Beispiel in Arizona stundenlang ein und demselben Sonnenuntergang hinterherzufahren oder sich bei einer leichten Pazifikbrise langsam und ohne Zeitdruck auf dem Highway 101 an der Küste entlangzuschlängeln. Vielleicht läuft im Radio sogar die geheimgehaltene Lieblingsschnulze – dann bleibt die Zeit für immer stehen.
Die Zeit anhalten. Ist es nicht das, was wir alle wollen? Genau dieses Phänomen, diese Fata Morgana der Sinne durfte ich wieder und wieder am eigenen Leib erfahren. Das Kneif-mich-mal-Syndrom hatte ich auf diesen Reisen nicht selten. Dinge zu «sehen», die man zwar sehen kann, die sich auch fotografieren lassen, aber die man nur schwer «begreifen» kann. Weil sie so schön, so überwältigend, so einzigartig, so unbeschreiblich sind.

Die Wirklichkeit ist eben unwirklich schön

Beweisfotos nenne ich diese Bilder. Wer glaubt einem heute schon, dass der Himmel genau so war, das Auto genau an der Stelle abgestellt wurde und die Leute nicht von mir platziert wurden.
Was für die einen Glück bedeutet, ist für die anderen «der Fluch des Photoshop-Zeitalters», besonders für Puristen und analoge Old-School-Mohikaner wie mich. Will nicht heißen, dass ich mich vor den neuen digitalen Möglichkeiten verschließe, dafür sorgen schon meine zwei amerikanischen Söhne im Teenager­alter: «But Papa, it’s 2012!» Das Medium Bild bleibt spannend und ist als «universelle Sprache» so gut geeignet.
Gerade deshalb habe ich mich der Fotografie verschrieben. Mehr Berufung als Beruf, eine Leidenschaft, ein Hobby. Lang, sehr lang habe ich gebraucht, um auf die Frage «What are you doing for a living?» zu antworten: «I am a photographer!»
Fast bin ich errötet, geplagt von einem schlechten Gewissen, das zu machen, was ich liebe – und was ich am besten kann: FOTOGRAFIEREN. Und dann noch ein «living» damit zu machen. Auf gut Deutsch: Geld mit dem Hobby verdienen. Aber zurück zur anderen Leidenschaft: dem Autofahren.
Eigentlich sollte man das hauptberuflich machen dürfen, habe ich mir immer gedacht. «Cross Country» fahren, kreuz und quer durchs weite Land, streunend wie ein Hund, die Abenteuerlust im Gepäck. Offen für Neues, nicht suchen, nur finden.
Einfach ohne Plan mal für zwei Tage links abbiegen und dem Scheibenwischer folgen. Was für ein seltenes Privileg, der wahre Luxus. Sozusagen das Zufallsprinzip als angewandte 3-D-App, als unberechenbarer Moment in unserer eingetakteten Welt von digitalen Präzisionsuhren – schier unvorstellbar. Nichts für die Ordnungsseele und das Bedürfnis nach Vorhersehung.

Einen Augen-Blick lang

Nun bin ich zu allem «Übel» ja Fotograf. Solange die Augen ge­öffnet sind, läuft der innere Rekorder. Wie ein Tageslicht-Vampir sauge ich mich voll an den unbeschreiblichen Szenen, die die Netzhaut erreichen. Berührt wird das ganze Spektrum der funktionierenden Sinne, unterbrochen nur vom kurzen Rhythmus eines Wimpernschlags.
Ich bin den Reizen hilflos ausgeliefert, kann es nicht lassen zu schauen, schon lange vorher Bilder zu komponieren. Die Brenn­weite, der Bildausschnitt werden nicht selten im Kopf ausprobiert. Vielleicht fahre ich deshalb so gerne nachts Auto – zwei roten Rücklichtern hinterher – im tiefen Schwarz. Erholung für den vollgesaugten Schwamm. Zeit zur Reflexion. Perfekt.
Ende der 70er-Jahre in Rockport/Maine, bei meinem einzigen formalen Workshop, den ich selbst besucht habe, hat mir meine spätere Mentorin und geschätzte Kollegin Sonja Bullaty eine wichtige Rezeptur für überwältigende Momente auf den Weg gegeben: «Schließe die Augen und versuche zu sehen.»
Das Innehalten, die Verlangsamung sind ein wichtiger Bestandteil für Fotografen eines «Cross Country-Trips». Man ist immer in Bewegung. Die Reise geht stets weiter. Der Blick ist nach vorne gerichtet. Umdrehen ist nicht drin, zumindest nicht auf der gleichen Straße. Eine selbstgebastelte Indianerregel.
Wie oft habe ich in den letzten drei Jahrzehnten dieses Land durchkreuzt! Habe aufgehört, die Meilen zu zählen, habe aufgehört, die belichteten Filme zu zählen, habe aufgehört die Staaten zu zählen. Habe immer wieder neue Routen gewählt. Habe tausendmal angehalten, oft hundertmal am Tag, um zu schnuppern, zu entdecken, mir ein Bild zu machen.

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Fotos: © Horst Hamann (www.horsthamann.com)

Die Freiheit fährt mit

Autos und Amerika – das kann man nicht trennen. Schon meine allererste Ausstellung hieß Cars and Stripes. Das Auto und die «eingebaute» Freiheit sind Teil des amerikanischen Traums. «The west is the best» hat Jim Morrison bei The End ins Mikrofon gehaucht. Der Goldrausch hat ganze Generationen von Träumern und Pionieren in die Berge getrieben. The «Heart of Gold» is gone. Die Versprechen sind verblasst. Nicht aber die Nachbilder, das Zurückgelassene, die rostigen Legenden, die Patina. – Ähn­lich dem hochempfindlichen Film reagiert das empfindsame Auge auf die süße «Seh-Sahne». Zusammengesetzt aus einer unbeschreiblichen Chemie. Ein Eldorado für den Lichtbildner. Die Reizflut will gebändigt werden. Die Bilder müssen erobert werden. Die Natur schenkt dir die Zutaten. Es liegt an dir, sie richtig zu mischen.

Die inneren Bilder

Dann gibt es die Bilder – vielleicht die besten –, die man nie gemacht hat, die aber als «Mental Polaroids» unvergessen bleiben, auch wenn sie nie auf Film oder Fotopapier erschienen sind.
Ich erinnere mich: das schwere, gelb-orange Honiglicht nach einem Gewitter am Ausgang der Rocky Mountains. Die hundertmeterlangen Schatten, die in Mexican Hat den roten Sand­stein zärtlich streiften. Die Abendsonne, die schon fünfmal hinter der Bergkette verschwunden war, nur um größer, gleißender und roter wieder «aufzugehen», bevor sie sich im Pazifik fast unbemerkt zurückzog. Die blaue Stunde, «the magic hour», wo sich jede Sekunde Farben, Formen und Wolkenbilder ändern und du nicht mehr weißt, wo oben und unten ist. Und das alles ohne Drogen und chemische Zusätze.
Was die amerikanische Landschaft eröffnet, bleibt atemberaubend. Man braucht nur etwas Zeit, ein Auto, das fährt, und einen wachen Geist.

Dunkelblaue Erfüllung

Übrigens: Mein persönlicher amerikanischer Traum kostete mich ganze 600 Dollar cash. Die Erfüllung war dunkelblau, von rostigen Löchern durchsetzt, stand am Straßenrand in Poland/ Maine und wollte zu mir. Der Ford F 250 Pickup war das schönste Auto der Welt. Die durchgehende Sitzbank bot Platz für die ganze Familie, das Radio funktionierte einwandfrei. Als ich den Zündschlüssel zum ersten Mal drehte und alle sechs Zylinder einstimmten, lief im Radio: A Horse With No Name. Name der Band: AMERICA.