Titelbild Hochformat

Gerlinde Kurz

Sophie und das verwunschene Haus

Nr 156 | Dezember 2012

gelesen von Simone Lambert

«Dass du über solche Kräfte verfügst, hättest du dir auch nicht träumen lassen, oder? Leider Gottes wissen auch heute noch die wenigsten Mädchen, wie stark sie wirklich sind.» Sophie war durch ein Gartentor geschlüpft, um ihren Kater einzufangen, und begegnete in dem fremden Haus voll mit Foto­grafien, Erinnerungsstücken aus der ganzen Welt und einem Regal voller Pokale einer alten Frau – einer sehr alten Frau: Theodora. Kater Johnny hat bei ihr ein zweites Zuhause gefunden, musste die Neunjährige zu ihrem Missfallen feststellen. Sophie half Theodora aus einer Notlage. Und jetzt hat sie sie eingeladen wiederzukommen. Sophie verheimlicht ihren Eltern den Besuch, sichert sich aber ab, indem sie Lotta, ihre beste Freundin, als Aufpasserin im Vorgarten postiert. Aber es ist Lotta, die in Schwierigkeiten gerät. Was dann passiert, stößt eine Kette von Konflikten an, die wie Dominosteine in die arglose Kindheit von Sophie fallen und sie verändern.
Sophie und Theodora Storeklit freunden sich an. Theodora hat als junge Frau ein Leben gelebt, das noch heute für Sophie interessant ist. Immer wieder erzählt sie aus ihrem Leben, setzt sich mit Sophie in den alten Adler – das Automobil, mit dem sie einst die Erde umrundete – und fährt mit ihr unter brennender Sonne über Landstraßen mit Pferdefuhrwerken, überquert den gefrorenen Baikalsee und besucht ein Pueblo der Hopi Indianer. Theodora fantasiert Abenteuer in der ganzen Welt, während sich das Gefährt nicht aus der Garage bewegt. Sophie ist beglückt und tief beeindruckt. Die «Reisen», die sie mit Theodora unternimmt, eröffnen ihr einen weiten Horizont und sie bieten ihr einen Vorgeschmack auf Autonomie.
Mit Theodora kann Sophie aber auch ihren Konflikt mit Lotta besprechen, von der sie sich verraten fühlt. Immer wieder geht es in diesem Kinderroman um Freundschaft, Liebe und Vertrauen. Sophie ist ein skeptisches Mädchen, misstrauisch, eifersüchtig und wütend. Von Theodora lernt sie, dass Verzeihen immer der stabilere Weg ist. Sophies Alleingänge bringen Geheimnisse mit sich – manche sind für sie belastend, andere genießt sie. Mit wachsendem Selbstvertrauen lernt sie auch damit umzugehen.
Als Sophie mit ihrer Familie aus den Sommerferien zurückkehrt, ist Theodora verschwunden. Sie hat dem Mädchen einen Abschiedsbrief hinterlassen. Mit Lottas Hilfe «übersetzt» Sophie den Brief aus der gotischen Schreibschrift in eine lesbare Fassung. Theodora ist auf eine letzte Reise nach Dänemark gegangen, um sich mit ihrer Tochter auszusöhnen, und lädt ihre neuen Freunde ein, mit ihr dort ein Sommerfest zu feiern.
Vorbild für die Gestalt der energischen, fröhlichen und dominanten Theodora war Clärenore Stinnes, die erste Frau, die mit dem Auto um die Welt gefahren ist. Gerlinde Kurz verzichtet darauf, den Ruhm des Originals auf die Geschichte zu übertragen. Sie konzentriert sich ganz auf die Freundschaft zwischen dem Mädchen, das langsam seine Nase in die Welt reckt, und der alten Frau, die am Ende ihres ungewöhnlichen Lebens steht. Dabei versteht es die Autorin, große Lebensfragen leicht und farbig zu behandeln. – Das «verwunschene Haus» gehört einer Frau, die sich ihre Wünsche erfüllt hat. Sophie wird darin am Ende ein- und ausgehen.

Ein sensibles, reiches und liebenswertes Buch.