Was ist Gemeinwohl-Ökonomie?

Nr 157 | Januar 2013

Ganz gleich, ob man Christian Felber, den Autor und Verbreiter der «Gemeinwohl-Ökonomie» liest, hört oder interviewt – er erscheint stets unaufgeregt und souverän. Hinter all diesen Qualitäten erhebt sich seine zentrale Fähigkeit. Der österreichische Publizist versteht sich meisterhaft darauf, einen labyrinthischen Gedankenfaden so lange zu verfolgen, bis dieser ihn zum Kern der Ausgangsfrage führt. Und weil er darüber hinaus ein genuines Gespür für die entscheidenden sozialen Fragen der Gegenwart hat und schließlich den brennenden Wunsch, gefundene Antworten auch in die Tat umzusetzen, erweist sich sein literarisches und nichtliterarisches «Werk» (mit Institutionen wie «Attac Österreich» oder der «Demokratischen Bank») innerhalb anderer alternativer Bewegungen als extrem fruchtbar und wirksam.

Ralf Lilienthal | Herr Felber, Sie sind Publizist und Mitinitiator der österreichischen Attac-Bewegung und darüber hinaus ausge­bildeter Tänzer. Auch in Ihren Büchern und Vorträgen bewegen Sie sich leichtfüßig und scheinbar mühelos zwischen Analyse und Synthese, Theorie und Praxis, großen Gedankenentwürfen und realisierbaren Vorschlägen hin und her. Dahinter steckt entweder jahrelange systematische Denkarbeit oder die Begabung, ohne Umwege das Wesentliche zu überschauen – und wahrscheinlich beides!?
Christian Felber | Seit ich 15 bin, befasse ich mich systematisch mit globalen Zusammenhängen. Ich wollte wissen, «was die Welt im Innersten zusammenhält» und bin auf diesem Weg ein «Spezialist für das Allgemeine» geworden. Ich sammle Infor­mationen, versuche sie sinnvoll zu ordnen und nachvollziehbar wiederzugeben. Gleichzeitig strebe ich eine Lebens­führung an, in der geistige Arbeit, körperliche Betätigung, zwischenmenschliche Beziehungen, Naturerfahrungen und politisches Engagement ausgewogen sind. Auch dabei zeigt sich immer mehr, dass das Einfache und Klare unser Ziel sein muss, nicht das Komplizierte, Unverständliche und Verkopfte.

RL | Einfach und klar ist auch Ihr Buch Die Gemeinwohl-Ökonomie. Darin erschüttern Sie die latente menschliche Trägheit durch eine offensichtlich sofort umsetzungsfähige Alternative zum gegen­wärtigen, Krisen zeitigenden Wirtschaftsmodell. Wie würden Sie die gegenwärtige Wirtschaftsrealität charakterisieren?
CF | Zwei Dinge sind entscheidend. Zum einen beobachten wir einen fundamentalen Wertwiderspruch. Während Empathie, Ehrlichkeit, Großzügigkeit, Solidarität, Mitgefühl und viele andere unbezweifelte Tugenden und Werte unsere sozialen Beziehungen gelingen lassen, wird auf den Märkten etwas vollkommen anderes gelebt und strukturell gefördert: Gewinnstreben und Konkurrenz, und mit ihnen das ganze Spektrum asozialer, egoistischer Verhaltens­formen. Dazu kommt ein entscheidender Methodenfehler. Im heutigen Wirtschaftssystem werden Zweck und Mittel verwechselt. Erfolg wird betriebswirtschaftlich und volkswirtschaftlich anhand monetärer Geldindikatoren gemessen. Doch Geld ist eben nur
das Mittel, während das eigentliche Ziel allen Wirtschaftens die Be­friedigung menschlicher Bedürfnisse und, zusammengefasst, das Gemeinwohl ist! Finanzkrise, Verteilungskrise, Ökologie- und Demokratiekrise – sie alle sind letztlich nur Symptome des charakterisierten Methodenfehlers.

  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
  • img cat 2
Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

RL | Gewaltfrei und mit demokratischen Mitteln agierende Ver­änderungs­bemühungen brauchen einen Hebelpunkt, wenn sie effektiv sein wollen. Wo setzt die Gemeinwohlökonomie an?
CF | Da über das Ziel des Wirtschaftens – die Befriedigung der Bedürfnisse aller – Konsens herrscht, ist die entscheidende Frage der Gemeinwohlökonomie: Wie kann ich die Zielerreichung innerhalb der Wirtschaft messen? Also haben wir begonnen, die fünfzehn relevantesten Erfolgsindikatoren für die mikro- und die makro­ökonomische Ebene zu entwickeln. Während das Gemeinwohl­produkt einer Volkswirtschaft misst, ob die Lebensqualität ihrer Bürger sinkt oder steigt, können wir mit der Gemeinwohlbilanz den Beitrag jedes Unternehmens zur Maximierung des Gemein­wohls abfragen. Welche Indikatoren dann tatsächlich in die Gemeinwohlbilanz einfließen, wird durch urdemokratische Prozesse und nicht in Expertengremien entschieden. Entscheidend ist dann allerdings ein nächster Schritt. Unternehmen, die einen größeren Beitrag zur Maximierung des Gemeinwohls leisten als andere, müssen rechtlich und finanziell besser gestellt werden. Wenn durch die Art der Besteuerung, durch Zölle, durch öffentliche Aufträge oder zinsgünstigere Kredite usw. die Produkte oder Dienstleistungen dieser Unternehmen preisgünstiger werden als die der weniger verantwortlichen oder rücksichtvollen Unter­nehmen, werden sie sich tendenziell am Markt durchsetzen.

RL | Wer Ihnen bis hierhin gefolgt ist, bemerkt (mit Genugtuung oder Empörung), dass Sie neue, aus der Gesamtgesellschaft erwachsende Regeln für eine Wirtschaft fordern, die von vielen nur als funktionierend gedacht werden kann, wenn sie sich «von alleine regelt».
CF | Wir, also die Mitwirkenden im privaten «Verein zur Förderung der Gemeinwohlökonomie», haben nicht den Anspruch, Gesetze zu formulieren, die für alle verbindlich sein sollen. Wir leisten nur die Vorarbeit für einen wirklich demokratischen Prozess, etwa in einem Wirtschaftskonvent, der von allen Menschen gewählt wird und für den jede und jeder kandidieren kann. Einen solchen ur­demokratischen Prozess hat bislang kein Gesetz genossen. Doch im Gegensatz zur gegenwärtigen Wirtschaftsordnung, wäre eine an den Grundgedanken der Gemeinwohlökonomie orientierte alternative Rechtsstruktur tatsächlich auch durch die Verfassungen legitimiert. Denn «Gewinnstreben» steht in keiner Verfassung als Ziel, während das «Gemeinwohl» ausdrücklich als Verfassungsziel ver­ankert ist. Und die Werte, nach denen sich die Indikatoren der Gemeinwohlbilanz richten, sind ja die fünf häufigsten Verfassungs­werte westlicher Demokratien. So gesehen würden wir einen verfassungswidrigen Zustand aufheben und in einen verfassungskonformen transformieren.

RL | Wie könnte der Weg dorthin pragmatisch aussehen?
CF | Am Anfang steht die ganz tiefe und klare Intuition, dass wir von der derzeitigen Parteiendemokratie wegkommen müssen, hin zu kooperativeren Formen der Demokratie. Konvente sind ein erstes Element in dieser Richtung. Sie lösen die Parteiendemokratie nicht ab, bewirken aber in wesentlichen Entscheidungsfragen eine Entlastung und damit auch eine Machtbegrenzung des Parlaments. Das ist allerdings hochlegitim, weil der Souverän über dem Parlament steht und brennend wichtige Fragen selbst entscheiden darf, ohne damit zugleich die grundlegende Legitimation des Parlaments in Zweifel zu ziehen. Das Parlament soll den Souverän entlasten, aber ich finde es unausgewogen, dass der Souverän gar nichts mehr selbst entscheidet, statt immer wieder grundlegende Fragen zu definieren, die er selbst entscheiden möchte.

RL | So sinnvoll sich alleine Ihr Gedanke eines Wirtschaftskonvents anhört, so groß erscheinen gegenwärtig noch die Widerstände gegenüber einer solchen unvertrauten und den etablierten Institu­tionen sicherlich auch unerwünschten Alternative zu sein.
CF | Das ist ein Grund, weshalb wir zunächst auf informeller Ebene in den Kommunen Bürgerkonvente initiieren. Dort kann sich zeigen, dass solche Konvente praktikabel, politisch relevant und den Menschen ein echtes Anliegen sind. So kann zunehmend politischer Druck erzeugt werden, dass die Parlamente auch Bundes­konvente zulassen und einberufen, deren Ergebnisse schließlich Volksabstimmungen zugeführt werden müssten.

RL | Die Gemeinwohlökonomie hat ihren Ursprung in tiefgreifenden Bewusstseinsprozessen, die unter dem Druck der Krisen noch schärfer akzentuiert hervortreten werden. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?
CF | Dass es ein Zusammenspiel aus intrinsischer und extrinsischer Motivation braucht. «Intrinsisch» heißt, dass die Menschen frei­willig Veränderungen einleiten – sie handeln «individualethisch»; «extrinsisch» heißt, dass sie – «sozialethisch» – durch Gesetze für ihr vorbildliches Verhalten unterstützt und belohnt werden. Die Er­fahrung zeigt, dass nur eine Doppelstrategie aus Vorbildwirkung und Regelbildung zum Erfolg führt. Der Umstand, dass sich die Krisen derzeit an allen Fronten verschärfen, vermehrt die Zahl der intrinsisch Motivierten, was bedeutet, dass die Zeit für uns arbeitet und der Wind immer günstiger weht, sodass es auch zu entsprechenden Gesetzes- und Verfassungsänderungen kommen wird.

RL | Insgesamt setzen Sie offensichtlich sehr gezielt auf die regionalen Strukturen?
CF | Wir bieten den kleinsten Einheiten der Gesellschaft konkrete Beteiligungsmöglichkeiten an: Unter­nehmen die Bilanz, Kommunen das Modell der Gemeinwohl-Gemeinde, Privatpersonen die Gründung von sogenannten «Energiefeldern» an ihrem Lebensort. Das geschieht zur Zeit im ganzen deutschen Sprachraum und darüberhinaus. Und es ist wunderschön zu beobachten, mit welcher Selbstver­ständlichkeit Menschen sofort erfassen, was hier passiert und dann einfach ihren individuellen Beitrag leisten – so, als würde irgendwo getanzt und die Leute kommen und tanzen mit!

RL | Ein solches Interview kann nur Grundzüge sichtbar werden lassen. Vielleicht können Sie ab­schließend am Beispiel einer der aktuellen Krisenthemen mögliche Auswirkungen Ihrer Ideen illustrieren?
CF | Nehmen Sie das Thema «Arbeitslosigkeit». Heute kann ein Unternehmen Arbeitsplätze abbauen und gleichzeitig individuell «erfolgreicher» sein, indem es die Gewinne verdoppelt; es kann die Einkommen drücken, einen fairen Steuerbeitrag vorenthalten und die Arbeitsbedingungen verschlechtern. Das ist heute alles möglich und weitgehend legal – und eine wichtige Ursache für die hohe strukturelle Arbeitslosigkeit unserer Gesellschaften. Die Gemeinwohlökonmie würde Unternehmen, die das Prinzip der Gewinnmaximierung aufgeben, stattdessen dafür belohnen, dass sie einen Beitrag zur Reduktion der Arbeitslosigkeit leisten, indem sie die Arbeit auf mehr Menschen aufteilen, die dafür weniger – und übrigens auch sinnerfüllter – arbeiten müssten. Außerdem wird es unter den Kriterien der Gemeinwohlökonomie auch Branchen geben, in denen die Produktivität verringert werden muss, sofern die Arbeitsproduktivität auf Kosten der Ressourcenproduktivität erhöht wurde. Ein ganz ein­faches Beispiel dafür wäre die Trendwende zum flächendeckenden ökologischen Landbau. Zusammengefasst heißt das: Statt Gewinne auszuschütten, könnten wir mehr Menschen in Arbeit bringen, wir könnten die Arbeitszeit verkürzen und die Arbeitsproduktivität zugunsten der natürlichen Ressourcen senken. Verbunden mit dem von uns angedachten Freijahr und der Stärkung der intrinsischen – auch unternehmerischen – Motivation könnte das Problem der Arbeitslosigkeit dann Geschichte sein.