Gerd Braune

Faszinierende Arktis

Nr 157 | Januar 2013

Majestätisch. Gewaltig. Überwältigend weit und faszinierend. Der Mensch wirkt verloren in dieser scheinbar unberührten Landschaft der Arktis, ein Spielball der Natur.

Eis und Schnee, Steine und Felsen
Im kurzen arktischen Sommer nördlich des Polarkreises ist die Arktis ein Land, in dem für einige Wochen oder gar Monate die Sonne nie untergeht und die wärmenden Sonnenstrahlen die Vegetation zu unerwarteter Üppigkeit und Farbenpracht erwecken. Im Winter ist sie das Land der von Blizzards begleiteten Dunkelheit, eisig, frostig, abweisend. Und sie ist das Land der Nationalparks mit den für Europäer so fremd klingenden Namen: Aulavik, Auyuittuq, Ivvavik, Quttinirpaq, Sirmilik, Tuktut Nogait und Wapusk.
Unberührt. Menschenleer. Auch so wird die Arktis beschrieben.
Es ist leicht, den Fuß hier auf ein Fleckchen Erde zu setzen, das noch nie ein Mensch betreten hat. Und doch ist es falsch, die Arktis als unberührt und menschenleer darzustellen. Sie ist seit Jahrtausenden Lebensraum von Menschen, den Inuit, deren Leben von Kälte und Eis geprägt ist. Das ist ihr Land. Und nun erleben sie, dass immer mehr Menschen in dieses Gebiet kommen und es nutzen – für Tourismus, Erholung, Forschung und wirtschaftliche Ausbeutung. Das Eis zieht sich zurück. Der Klimawandel öffnet den Polarraum.

Einsamkeit im Sylvia Grinnell-Park
«Soll ich dich hier wieder abholen?», fragt mich der Taxifahrer mit eindeutigem französischen Akzent. Er ist einer der vielen franko­phonen Taxifahrer in Iqaluit, der Hauptstadt des kanadischen Arktisterritoriums Nunavut. Er hat mich an die Stadt­grenze von Iqaluit gefahren, wo der Sylvia Grinnell-Park beginnt. Bei jedem Aufenthalt in Iqaluit versuche ich, zwischen beruf­-lichen Terminen einige freie Stunden herauszuschlagen. Dann lasse ich mich – nachdem mir Einheimische versichert haben, dass in der Nähe von Iqaluit keine Eisbären gesichtet wurden – in die Einsamkeit fahren. Ich drücke dem Taxifahrer sieben Dollar, die Pauschalrate für Fahrten in Iqaluit und ein kleines Trinkgeld, in die Hand. «Bitte, seien Sie in zwei Stunden wieder hier», sage ich ihm.
Auf dem Holzschild am Wegesrand steht «Sylvia Grinnell», darüber in Syllabics, den Schriftzeichen der Inuit-Sprache Inuktitut, «Iqaluit Kuunga», Iqaluit Fluss, wie die Inuit den Park nennen. Auch der Breitengrad ist angegeben: 63. Grad nördlicher Breite, also knapp unter dem Polarkreis, der auf dem 66. Breitengrad verläuft.
Ich bin ganz allein. Ich verlasse den Weg. Vorsichtig setze ich meine Schritte zwischen die Steine. Der eisige Wind wirbelt den Schnee auf, der Felsen, Moose und Flechten bedeckt. Ich erreiche den Sylvia Grinnell-Fluss und einen kleinen Wasserfall. Am Rand hat sich schon Eis gebildet. Einige kleinere Seen sind schon vollständig davon bedeckt. Im Schnee entdecke ich Spuren von Karibus. Auf einer Anhöhe erkenne ich die Konturen eines «Inukshuk», einer dem Menschen gleichenden Steinskulptur, aufgebaut aus den Steinen der Arktis. Sie dienen als Wegmarkierung und Orientierung. «Inukshuk» heißt «wie ein Mensch».
Der Himmel ist von grauen Wolken verhangen. Mühsam dringen ein paar Sonnenstrahlen durch und tauchen die Landschaft in ein bizarres Licht. Silbrig glänzt das Eis. Es sieht nach Schnee aus.
Kein Mensch ist zu sehen. Kein Haus. Nur ich und die vom Wind unterbrochene Stille. – Dies ist die Arktis. Eis und Schnee. So wie man sie sich vorstellt und assoziiert: ewiges Eis, Nordpol. Aber im Sommer ist sie hier in Nord-Kanada ein Land wie ein Steinbruch, mit Geröll, Sand und Blumen, durchzogen von Bächen mit Schmelz­wasser. Und doch ist es eine trockene Gegend mit geringen Niederschlägen, eine polare Wüste. Die Arktis ist nicht nur der Nordpol. Sie ragt weit hinein ins Festland der angrenzenden Kontinente. Hier leben die 150.000 Inuit Kanadas, Alaskas, Grön­lands und Sibiriens, die Sami Skandinaviens, die indigenen Völker Sibiriens und die Aleuten. Die Arktis ist der Arktische Ozean und das ihn umgebende Land, anders als die Antarktis, die ein eis-bedeckter, unbewohnter Kontinent inmitten eines Meeres ist.

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Fotos: © Gerd Braune: www.arctic-report.net

Einige Stunden später bin ich wieder in Iqaluit («Die Fischreiche», wie die Stadt in Inuktitut heißt) und kaufe ein paar Lebens­mittel.
Im North Mart begegnet mir John Amagoalik, den ich seit meinem ersten Besuch in Iqaluit vor 16 Jahren kenne. Für viele ist der ältere Herr der «Vater von Nunavut», denn er war maßgeblich an den Verhand­lungen beteiligt, die zur Gründung des von Inuit dominierten Territoriums Nunavut («Unser Land») führten. Am 1. April 1999 war in Kanada das Gesetz in Kraft getreten, mit dem aus den da­maligen Nordwest-Territorien das Territorium Nunavut herausgelöst worden war: zwei Millionen Quadrat­kilometer, etwa ein Fünftel Kanadas oder mehr als fünfmal die Fläche der Bundes­republik Deutschland, 30.000 Menschen in 27 Gemeinden, die nur mit Flugzeug oder Schiff zu erreichen sind und zwischen denen es keine Straßenverbindungen gibt. Sechs Jahre zuvor hatten sich die Inuit und die Regierung in Ottawa bereits auf ein Abkommen über Landrechte geeinigt. Mit dem Nunavut Land Claims Agreement erhielten die Inuit die Kontrolle über 356.000 Quadratkilometer Land, davon 38.000 Quadratkilometer, auf denen sie auch Anspruch auf die Bodenschätze haben, auf Eisenerz, Gold und Diamanten.
Auch in anderen Arktisregionen Kanadas wurden Vereinbarungen über Landrechte abgeschlossen: in Nunavik (Nord-Quebec), in Nunatsiavut (Labrador) und in der Inuvialuit-Region in den Nord­west-Territorien. Damit können die Ureinwohner der Arktis bei der Verwaltung und Nutzung des von ihnen traditionell be­siedelten Gebietes mitentscheiden. «Unsere Kinder werden glück­-­licherweise nie erfahren, was es heißt, unter den Bedingungen des Kolonialismus aufzuwachsen. Unsere Väter erlebten eine Zeit, in der ihnen ihre Unabhängigkeit und ihre Menschenrechte weg­genommen wurden», sagt der 65-jährige John Amagoalik – und er weiß, worüber er da langsam und betont redet.
Daher reagieren die Inuit gereizt, wenn Außenstehende die Arktis «menschenleer» nennen oder sie zu einem einzigen großen Schutz­gebiet erklären wollen. Sie wehren sich gegen Bevormundung, pochen auf ihr Recht auf Selbstbestimmung über ihr Leben, ihre Territorien, Kulturen und Sprachen.
An seinem Arbeitsplatz bei der Qikiqtaaluk Information Technology Corporation in Iqaluit treffe ich Andrew Beveridge-Tagornak. Vor einigen Jahren hat er mir geholfen, als während einer Konferenz in Iqaluit mein Computer ausfiel. «Wir haben die neuen Technologien und unsere Traditionen», sagt Andrew. Nunavut ist der Versuch, moderne Welt und Tradition in Einklang zu bringen. «Wenn wir auf die Jagd gehen, nehmen wir ein GPS mit, damit wir im Falle eines Blizzards nicht verloren sind. Aber unsere traditionellen Kenntnisse helfen uns, im Schneesturm zu überleben, wenn das GPS ausfällt. Aufgrund unseres Wissens über den Wind und die Schnee­bänke, die er formt, können wir uns orientieren.» An den Wochen­enden lässt Andrew die Computer stehen und zieht hinaus in die Tundra zur Karibujagd oder fährt zum Fischen auf die Frobisher Bay.

Mit dem Eisbrecher in der Nordwest-Passage
Langsam, aber unaufhaltsam, schiebt sich der Bug der rot leuchtenden Louis S. St. Laurent aufs Eis. Mit ihrem Gewicht zermalmt die «Louis», der größte Eisbrecher der kanadischen Küstenwache, das Eis in der Baffin Bay am Eingang zum Lancaster Sound. Dröhnend brechen die Platten, zwischen die das in der permanenten Arktissonne blau-grün funkelnde Wasser strömt. Hinter dem Eisbrecher bleibt für kurze Zeit eine offene Fahrrinne zurück, die sich aber schnell wieder schließt. Wie Puzzleteile scheinen die Eisschollen zusammenzupassen. – Wir sind auf dem Weg nach Resolute auf der Cornwallis-Insel, der zweitnördlichsten Gemeinde Kanadas. Gewaltige Eisberge ziehen an uns vorbei. Die drohenden Kolosse halten uns auf sicherem Abstand. Vor 100 Jahren hatte die Labrador-Strömung einen dieser weißen Giganten weit nach Süden getrieben, in den Weg der Titanic …
Der Lancaster Sound ist Teil der legendären Nordwest-Passage durch Kanadas arktische Inselwelt. Diese Meeresstraße gilt wegen ihres Artenreichtums als «Serengeti der Arktis». Durch den Lancaster Sound ziehen Walrosse, Narwale, Belugas und die bis zu 18 Meter langen Grönlandwale. Eis und Wasser des Lancaster Sounds sind zudem Lebensraum für Eisbären, Robben und zahlreiche Vogelarten. Wir haben Glück: Auf einer Eisscholle schlendert gemächlich ein Eisbär. Sein Fell ist gelblich-braun. Er reckt die Schnauze in die Höhe, blickt zu uns herüber, dann verschwindet er hinter einem Berg von Eis, der sich aufgetürmt hat. Es liegt auch an uns, dass seine Lebensgrundlage, das Eis, unter den Tatzen dahinschmilzt.
Noch vor wenigen Jahrzehnten war die Nordwest-Passage fast undurchdringbar. Eis blockierte Schiffen den Weg. Über Jahrhunderte haben Forscher nach dieser Nordwest-Passage gesucht, die den Seeweg zwischen Europa und Asien merklich verkürzen würde. In der Steinwüste der kleinen Beechey Island zeugen schlichte Holzkreuze von einer der großen Tragödien der Arktiserforschung – dem Tod des britischen Seefahrers John Franklin und seiner 128 Begleiter, die 1847/48 im Eis stecken blieben und ums Leben kamen.
Heute sind Forscher anders gegen die eisigen Widrigkeiten gewappnet, vor allem aber ist der Klima­wandel nirgends so deutlich zu sehen wie hier, wo das Meereis schmilzt und der Permafrostboden taut. Das weckt Begehrlichkeiten: für neue Schifffahrtsrouten, für die Ausbeutung von Bodenschätzen auf dem Land, für Öl- und Gasförderung im Eismeer. Und die Anrainerstaaten des Arktischen Ozeans versuchen, ihre Rechte auf Nutzung des Meeresbodens über die 200-Seemeilenzone hinaus auszuweiten.

Der Ort der langen Dunkelheit
Qausuittuq nennen die Inuit den Ort in der hohen Arktis Kanadas, der auf Landkarten meist als Resolute eingetragen ist, 900 Kilo­meter nördlich des Polarkreises. Qausuittuq bedeutet in Inuktitut «Ort der langen Dunkelheit». Im Dezember und Januar ist die Sonne hier nicht zu sehen. Aber im Sommer, wenn die Sonne scheint und die Lufttemperaturen zehn Grad Celsius erreichen können, spielen die Inuit-Kinder in ihrem Schwimmbad, einem vom Mecham-Fluss in die Felsen gegrabenen Wasserbecken.
Rund 200 Menschen leben hier, die meisten sind Inuit, der Rest «Qallunaat», Weiße. Die kleinen eingeschossigen Wohnhäuser liegen am Fuße einer kargen, felsigen Bergkette, so als suchten sie Schutz vor dem arktischen Wind. Hierher kommen Wissenschaftler und Touristen, die von Resolute aus weiterziehen, um in der Arktis zu forschen, Wale und Moschusochsen zu beobachten oder Wander­ungen in die karge Wildnis zu unternehmen. An einem Holzpfosten vor einem Hotel geben Hinweisschilder Entfernungen an: 2082 Meilen nach Montreal, 3750 Meilen nach Hamburg, aber nur 1086 Meilen zum Nordpol.
Einige Kilometer außerhalb von Resolute liegt der Thule-Site. Walknochen sind zu zeltartigen Gerüsten zusammengestellt. Dies ist ein besonderer Platz. Hier existierte vor 1000 Jahren eine Inuit-Siedlung. Menschen der Thule-Kultur, die sich über eine Zeitspanne von sechs Jahrhunderten von etwa 1000 bis 1600 nach Christus erstreckt, lebten hier. «Sie waren sehr fähige Jäger, die große Wale wie den Grönlandwal erlegten», erzählt Simon Idlout, ein alter Inuk. Das war Nahrungssicherheit für mehrere Wochen für mehrere Familien – und ist es heute noch. Der Thule-Platz liegt direkt am Wasser, nicht weit vom Friedhof entfernt. Ein friedlicher Ort, der zum Nachdenken anregt. In dieser Welt überlebten und lebten Menschen vor Hunderten von Jahren und selbst vor fünf Jahrzehnten noch ohne die «Errungenschaften» der Zivilisation, ohne Strom und fließendes Wasser, ohne Fernsehen und Telefon. Sie passten sich an die harsche Umgebung an. Das Land und das Wasser gaben ihnen, den Inuit, alles, was sie brauchten. Und damit auch das Recht, die Arktis ihr Land zu nennen.
Auf seinem geländegängigen All-Terrain-Vehicle (ATV) nimmt mich Mark Amarualik mit auf Streife. Mark ist ein Ranger. Unter seinem grünen Parka trägt er den roten Kapuzenpullover der kanadischen Ranger, einer Reservistentruppe, die im dünnbe­-siedelten Norden patrouilliert. Durch eine Bucht zieht eine Herde weißer Wale. Belugas oder «Qilalugak», wie die Inuit sagen. Plötzlich hält Mark an. «Nanook», sagt er leise. Ein Eisbär sucht am Strand nach Beute. Mark will zum Gewehr greifen, aber der Eisbär scheint ebenso erschrocken wie wir. Er springt ins Wasser und taucht ab. Wir setzen unsere Fahrt fort durch die endlose Weite der Arktis.