Dr. med. Genn Kameda im Gespräch mit Doris Kleinau-Metzler

Was können Eltern tun?

Nr 158 | Februar 2013

Eltern-Sein heißt, sich immer wieder zu überlegen, was gut für das Kind sein könnte. Wird das Kind krank, erleben Eltern sich oft als hilflos, umso mehr, wenn es sich um eine schwere Erkrankung wie Krebs handelt, die im Krankenhaus mit einschneidenden Maßnahmen wie Chemotherapie behandelt werden muss. Aus dieser Situation heraus entstand das Buch «Unser Kind hat Krebs? Was können wir tun?» der Fachjournalistin Annette Bopp und des Kinderarztes Dr. med. Genn Kameda. Einfühlsam und sachlich wird jeweils die Krankheits- und Heilungsgeschichte eines Kindes aus der Sicht von Eltern im Wechsel mit praktischen Anregungen, wie der Alltag mit der Krankheit des Kindes von den Eltern positiv gestaltet werden kann, geschildert. Dieses Buch ist trotz des schwierigen Themas ein Lebens-Buch – mitten aus unserem Leben, in dem nicht alles auf eindeutige Ursachen zurückzuführen ist und Fragen zum «Wieso» und «Warum gerade mein Kind?» nie eindeutig zu beantworten sind. Genn Kameda erlebte als Oberarzt auch, wie wichtig die Unterstützung der Eltern für die Heilung der Kinder ist. Gerade in der Krankheitszeit brauchen die jungen Patienten etwas, das ihnen seelisch guttut und innere Kräfte mobilisiert, wie ein wohltuend geregelter Ablauf in der Klinik und zu Hause sowie kreatives eigenes Tun (mit Ton, beim Malen und Basteln im Rahmen der Kunsttherapie). Das offene Gespräch schafft die Voraussetzung, die jungen Patienten und ihre Eltern in dieser extremen Lebenssituation zu begleiten.

Doris Kleinau-Metzler | Herr Kameda, das Thema Krebs und Kinder wirkt für viele Menschen zunächst abschreckend, weckt aber auch Mitleid und Betroffenheit.
Genn Kameda | Ja, das Thema weckt Mitleid, aber auch Mitgefühl. Doch richtig «mit-leiden» kann eigentlich niemand, der nicht in dieser extremen Situation ist, nicht weiß, was diese Diagnose ganz konkret für das Kind und die Familie bedeutet. Und ein Mitleiden aus Schockiertheit heraus wollen die Eltern nicht; es behindert, dass man die Krankheit tatsächlich offen und zukunftsgerichtet in Sinne von «Was können wir tun?» angeht. Mitgefühl kann dagegen auch heißen, Anteil am Schicksal der Familie zu nehmen, sich nicht befangen abzuwenden, vielleicht Hilfe anzubieten und dennoch eine gewisse Distanz zu wahren.
Oft bestehen zunächst auch falsche Vorstellungen über Krebs bei Kindern. In der Kinderkrebstherapie können heute sehr viele Kinder geheilt werden – und das unterscheidet sie grundsätzlich von der Erwachsenen-Onkologie, wo die Behandlung oft nicht so erfolgreich verläuft. Der Alltag der Behandlung ist zeitweise sehr hart, aber durchzustehen, wenn man weiß, weshalb es notwendig ist. Da hilft es nicht, wenn jemand sagt, wie ich es einmal vor einem Vortrag erlebte: «Ach, die armen Würmchen!» Es sind keine «armen Würmchen», sondern es geht um Kinder, die lebensbedrohlich krank, aber trotzdem zu fördern sind.
Im Alltag auf der Station wird gelernt, gebastelt, gelacht und Blödsinn
gemacht – auch geweint, gelitten und gedacht.

DKM | Die Reaktion von Erwachsenen scheinen eng mit Angst ver­bunden. Eine Grundangst, dass dem eigenen Kind etwas Schlimmes zustoßen könnte, begleitet heute viele Eltern, nicht zuletzt durch Medienberichte verstärkt.
GK | Stimmt, man hat allgemein Angst davor, dass das Kind auf dem Weg zur Schule überfahren oder überfallen wird, dass es etwas Falsches isst usw. Angst ist ein Zeitphänomen auf allen Ebenen. Bei der Krebserkrankung von Kindern ist es aber oft so, dass Eltern meist eine gute Intuition für ihr eigenes Kind haben und sagen: «Irgendetwas stimmt nicht, in dieser Art war mein Kind noch nie krank.» Eltern kennen ihr Kind am besten. Wenn dann die Diagnose feststeht, müssen wir über invasive Maßnahmen sprechen wie Knochen­markpunktionen und Chemotherapie und alle Neben­wirkungen erklären, was die Eltern in eine traumatische Stress­situation bringt.

DKM | Wie kann man damit zurechtkommen?
GK | Das muss jede Familie für sich herausfinden, aber sich Zeit zu nehmen und Gespräche zu führen kann heilen. Es geht darum, den eigenen Weg im Umgang mit der Krankheit zu finden und vielleicht, wie mein Kollege Dr. Christoph Tautz sagt, etwas anderes wachsen zu lassen, im Einzelnen, in der Familie – gleichsam an­stelle des Tumors. Aber die reale Angst ist da, denn auf
einer onko­logischen Station sterben auch Kinder. Und sicher ist, dass das Leben für die Familie und den Patienten nie mehr so ist wie vor der Diagnose, auch wenn man es sich wünscht.
Die Erfahrungen mit der Krankheit verändern alle nachhaltig – das ist auch noch Jahre nach der erfolgreichen Behandlung der Kinder so.

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Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

DKM | Neben Angst ist für alle Eltern wahrscheinlich eine innere Frage, ob sie irgendwie schuld sind an der Krebskrankheit ihres Kindes?
GK | Ja, die Schuldfrage belastet viele Eltern, sei es, dass sie über­legen, ob sie zu spät zum Arzt gingen, die Diagnose sich ver­zögerte oder warum das Kind trotz bester Ernährung krank wurde: Das führt immer wieder zu der Frage: «Was haben wir falsch gemacht?» Für mich ist wichtig, Eltern die Freiheit zu geben, das anzu­sprechen. Dann kann ich als Erstes klar sagen: «Sie haben keine Schuld», und als Zweites: «Wir können in der Vergangenheit nicht einfach eine Ursache finden. Besser ist es, den Blick in die Zukunft zu wenden und zu überlegen, wie ich die Entwicklung, die Ge­sundheit des Kindes stärken kann.» Geschehnisse in der Ver­gangen­heit können wir ohnehin nicht mehr ändern, aber unsere Schritte in die Zukunft können wir massiv beeinflussen – wenn wir uns aus der Schuldfrage lösen. Manchmal ergeben sich aus der Situation auch Überlegungen, was die Krank­heit aus biographischer Sicht mit den Eltern, mit dem Kind zu tun hat. Zu ermöglichen, auch das anzusprechen, wenn das Bedürfnis danach entsteht, ist für mich wesentlich.

DKM | Am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke wird auch Komple­mentär­medizin angeboten, das heißt, Behandlungen wie Chemo­therapie werden durch andere Therapien ergänzt, nicht ersetzt. Was ist das Besondere am komplementären Ansatz in Herdecke?
GK | Das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke arbeitet komplementär auf anthroposophischer Grundlage, das heißt, die Schul­medizin, die aus Krankenhäusern bekannt ist, wird praktiziert wie dort auch, aber – je nach individueller Situation – durch andere, erweiterte Therapieformen ergänzt, wie verschiedene künstlerische Therapien, zusätzliche pflegerische Maßnahmen (wie Ein­rei­bungen und Wickel), Homöopathie und Misteltherapie. Diese ist zentral in der anthroposophischen Krebsbehandlung.

DKM | In Ihrem Buch sagen Sie: «Die Komplementärmedizin bietet da vielleicht noch einige solche Ecken, wo Hoffnung gären kann oder Nahrung bekommt. Vielleicht ist das eine Möglichkeit, mit dem Schicksal anders umzugehen, wenn man es ansonsten immer nur mit harten Fakten zu tun hat … Vielleicht müssen manche Fragen offen bleiben, damit der Mensch sich entwickeln kann.» Diesen Überlegungen, mit denen Sie Entwicklung und Krankheit verbinden, steht gegenüber, dass wir oft meinen, alles selbst in der Hand zu haben oder alles planen zu können. Jede schwere Krankheit erinnert uns daran, dass es nicht so ist.
GK | Die Entwicklung des Einzelnen, sein Schicksal, seine Situation an einem bestimmten biographischen Punkt ist in der anthroposophischen Medizin grundlegend. Gerade vor dem Hintergrund dieses Entwicklungsgedankens sind diese Therapien ein wichtiger Bestandteil des gesamten Therapiekonzepts, die individuell, je nach Situation des Patienten, eingesetzt werden. Wir sehen den gesamten Menschen, seine Biographie, sein Gesamt­befinden und vor allem auch seine seelische Situation. Ein einfaches Beispiel dazu: Jeder weiß von sich, wie Musik wirken kann – und wir erleben immer wieder, dass Musik- und Kunsttherapie in Begleitung zu einer Chemotherapie stressab­bauend oder schmerzlindernd wirkt.

DKM | Was ist das Besondere für Sie am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke gewesen, welche Erfahrungen haben Sie geprägt?
GK | Bei meiner Facharzt-Ausbildung an der Universitätsklinik Düsseldorf in der Kinderonkologie habe ich positiv erlebt, dass man die jungen Patienten über einen langen Zeitraum begleitet. Herdecke war für mich dann wegen der erweiterten Therapie­möglichkeiten spannend. Gerade weil viele Kinder durch die Erfolge der Schulmedizin heute die Krebserkrankung überleben, ist es für ihr weiteres Leben umso wichtiger, mit welcher Lebensqualität, welchen Erfahrungen sie durch die Therapie gehen. Da bietet das Gemeinschaftskrankenhaus durch das anthroposophische Therapie­konzept eine besondere Qualität und besondere Möglichkeiten. Immer wieder war ich zudem erstaunt und bewegt, was Eltern über ihre Gedanken, Eindrücke und Erfahrungen im Zusammenhang mit der Erkrankung ihres Kindes berichten, manchmal auch noch Jahre später. Sie haben so viel zu sagen, davon kann ich nur lernen. Aber es ist durchaus nicht immer nur positiv, manche Familien zerbrechen an den Belastungen, die die Krankheit für die Familie mit sich bringt.
Die Kinder und Jugendlichen mit der Diagnose Krebs sind am Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke zudem nicht isoliert auf einer eigenen Onkologie, sondern in der allgemeinen Abteilung für Kinder- und Jugendmedizin untergebracht und beim Essen oder in einer Bastelgruppe in den normalen Ablauf integriert, soweit es ihr Zustand erlaubt. Das bringt eine offene Atmosphäre mit sich. Manches ist in Herdecke auch möglich, weil die Klinik im Vergleich zu Universitätskliniken relativ klein ist, zumal an großen Kliniken oft mehr schwere Krankheitsfälle zusammenkommen; sie haben im Sozialen nicht den gleichen Spielraum. Bei der heutigen Behandlung kommen die Kinder zwischen den intensiven Zeiten im Krankenhaus immer wieder nach Hause – auch dort können Eltern, wie bei jeder Erkrankung ihres Kindes, viel ergänzend zu den medizinischen Maßnahmen tun. Für wirklich wegweisende Ver­änderungen, für eine ganzheitliche Sicht auf die Krankheit, braucht man auch als Arzt eine gewisse Freiheit, in der sich Kreativität entfalten kann. Dafür muss man sich Zeit nehmen – zum Beispiel eine Stunde Auszeit gemeinsam mit den Eltern, um sich zu fragen: «Was braucht das Kind?» Das ist etwas anderes, als wenn Eltern mit der Haltung kommen: Ihr Mediziner sollt das Kind mit Technik und Chemie gesund machen, und wir schauen zu. Sicher ist es für manche Eltern nicht leicht, durch die Gespräche und die Versorgung auch einen Teil der Verantwortung zu übernehmen. Wenn dann noch durch ein integratives Therapiekonzept und die Besprechungen von Therapeuten, Ärzten und Pflegenden ein gemeinsames Bild aus diesen verschiedenen Blickwinkeln entsteht, ein inneres Bild des Kindes und seiner Situation, kann etwas in Bewegung kommen, etwas Neues entstehen, was vorher noch nicht möglich schien und positiv zur Entwicklung beiträgt.