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Jan Terlouw

Kriegswinter

Nr 158 | Februar 2013

gelesen von Simone Lambert

Es ist der letzte Winter des Zweiten Weltkriegs, die Menschen in Holland leiden unter Hunger und Kälte. Michiel van Beusekom ist fünfzehn Jahre alt und Sohn des Bürgermeisters von de Vlank, einem Dorf im noch von Deutschen besetzten Teil der Niederlande. Allabendlich finden sich in der Stube der van Beusekoms Fremde und Bekannte ein, Menschen, die auf der Suche nach Nahrung manchmal hundert Kilometer weit laufen. Die Mutter hilft mit Essen, Kleidung, einer Übernachtung.
Michiel, bereit für Aktivitäten im Widerstand, gerät unversehens hinein, als sein Freund Dirk einen Überfall auf die Zuteilungsstelle plant, um Lebensmittelmarken für Untergetauchte zu besorgen. Michiel soll einem Mitglied des Widerstands einen Brief bringen, falls etwas schiefgeht. Der Überfall scheitert, Dirk wird verhaftet, und als Michiel den Brief endlich Bertus van Gelder übergeben kann, ist auch der bereits von den Deutschen festgenommen worden. Michiel erfährt aus dem Brief, dass Dirk einen verletzten englischen Piloten im Wald versteckt hat. Von nun an versorgt und pflegt er Jack, benötigt aber bald die Hilfe seiner Schwester Erica, einer Krankenschwester. Die Situation wird noch gefährlicher,
als die Leiche eines deutschen Soldaten im Wald gefunden wird. Die Gestapo nimmt zehn Männer des Dorfes in Geiselhaft, bis sich der Täter stellen würde. Als das nicht passiert, werden fünf von ihnen erschossen. Darunter Michiels Vater.
Kriegswinter ist beides: Entwicklungsroman und realistische Dar­stellung des Lebens und der Gefahren unter deutscher Besatzung. Der Terror des Krieges begleitet und prägt Michiels Erwachsen­werden. Es sind die Worte seines Vaters, die ihm in seiner Verwirrung Orientierung bieten:
«Michiel, lass dir nicht einreden, im Krieg ginge es um Werte wie Heldenmut und Aufopferung oder um Spannung. Krieg bedeutet immer Hunger, Tränen, Entbehrungen, Angst, Schmerz, Gefangenschaft und Unrecht, und das alles hat ganz und gar nichts Abenteuerliches.» Und: «In jedem Krieg geschieht Entsetzliches. Glaub bloß nicht, nur die Deutschen seien so. Auch Niederländer, Engländer, Franzosen – jedes Volk hat in Kriegszeiten so brutal gemordet und gefoltert, wie man es sich im Frieden kaum vor­stellen kann.»
Dieses Buch erschien 1972, in einer Zeit, in der Holland eine öffentlich erregte Debatte um eine realistische und angemessene Darstellung des Krieges und der beteiligten Parteien führte. Jan Terlouw, Jahrgang 1931, hat mit seinem Roman einen Beitrag zu dieser Diskussion geleistet. Seine eigenen Erfahrungen, die in diesen Roman eingeflossen sind – so die lebendige und beeindruckende Darstellung des langen, trostlosen Winters oder des
konstanten Stroms von Menschen, die auf der Suche nach Nahrung die Straßen entlang wandern – und die differenzierte Schilderung der Deutschen – es ist ein deutscher Soldat, der sich aufs Hausdach traut, um Michiels kleinen Bruder zu retten, während die Nachbarn tatenlos zusehen – setzen sich über Schwarzweißmalerei hinweg und machen Kriegswinter zu einem Zeugnis der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten. Der spannende Roman beschreibt Menschen mit Haltung ebenso wie Mitläufer, Widerständige, Opportunisten und Verräter. Mit 40-jähriger Verspätung erscheint Kriegswinter nun in der hervorragenden deutschen Übersetzung von Eva Schweikart, die der Qualität und der Wucht des nieder­ländischen Klassikers gerecht wird.

Dieser Roman ist ein Zeugnis der Menschlichkeit in unmenschlichen Zeiten.