Ralf Lilienthal

Inklusiv, exklusiv? Hauptsache Theater!

Nr 159 | März 2013

Es begann, wie so vieles Gute, ohne Auftrag. Eine Handvoll Menschen, die meisten kannten sich aus dem Studium, wollte Theater machen. Mit sogenannten Behinderten. In deren Freizeit. Keine kleine Herausforderung für Menschen, die den ganzen Tag über in einer Werkstatt arbeiten. Eine Doppelbelastung. «Warum können wir das nicht so entwickeln, dass Theater (und bildende Kunst) zum Beruf für diese Menschen wird?» Das fragte sich der Kreis um Gerlinde Altenmüller († Mai 2012), Christine Vogt und Matthias Maedebach. Und weil es tatkräftige und phantasievolle Menschen waren, besteht der von ihnen gegründete Theater- und Kunst-Verein «Thikwa e.V.» seit inzwischen über 20 Jahren und leistet in Symbiose mit der «Nordberliner Werkgemeinschaft» international anerkannte und modellhaft-vorbildliche Arbeit.

Lust auf ein Berliner Kultur-Experiment? Theater Thikwa! Voraus­setzungen: Keine. Im Gegenteil, gehen Sie unvorbereitet hin und lassen den Theaterabend im F40, einer Spielstätte, die Thikwa zusammen mit dem English Theatre Berlin in den Mühlenhaupt­höfen in Berlin-Kreuzberg betreibt, ohne eingebauten Vorurteils­filter auf sich wirken. Das beginnt schon im Foyer. Dort gibt es, wie überall auch, Sekt, Selters und Knabbereien, die ganze Palette zur Überbrückung von Wartezeit und zum Dran-Festhalten, wenn Konversation auf dem Vorprogramm steht. Insidergespräche gibt es in diesem Theaterfoyer auch. Die bekannten Dialoge zwischen Künstlern und Intellektuellen, Machern und bürgerlich-kritischem Publikum. Mainstream.
Doch hier, bei den «Thikwas» (der Begriff stammt aus dem Hebräischen und bedeutet «Hoffnung»), gibt es auch eine zweite Form der Insiderkultur. Deren Dialoge sind alles, nur nicht intellek­tuell. Man spricht laut und emotional. Manchmal ohne Punkt und Komma. Und gelegentlich fast flüsternd, gerade so, als wäre der Sprecher am liebsten gar nicht da. Auch das Auge findet hier wenig von dem, was es sonst erwartungsgemäß im Foyer vermerkt. Kaum Festlichkeit und Eleganz. Kaum cooles Under­statement in Schwarz. Kaum verspielt-individuelle Buntheit, vermischt und vermengt und doch raffiniert-stimmig. Stattdessen? Alltagskluft. Zusammengewürfeltes. Und sogar «Bekenntnis­textilien» wie die beiden Hertha-Fanschals in Blau-Weiß. Die Stimmung? Man kennt sich und es ist gerade so, als wäre der Theaterabend zugleich eine erweiterte Familienfeier. Mit dem Unterschied, dass man sich hier, bei Gelegenheit einer Auf­führung, beinahe durchgehend zu mögen scheint.

  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
  • img cat 3
Fotos: © Fotos: Wolfgang Schmidt (www.wolfgang-schmidt-foto.de)

Zuallererst Theater

Später, als das Schauspiel beginnt – an diesem Abend die Wiederaufnahme von Schippel’s Traum, ein Stück nach Motiven und Texten von Carl Sternheim – wird der Betrachter wie ge­wohnt mit dem Fluss der Bühnenereignisse davongetragen. Trotz und eigentlich sogar wegen der Irritationen, die es vom ersten Wort und Bild an auch gibt. Denn die Gesichter einiger Akteure sind – was Schauspielergesichter nur in sehr seltenen Fällen sind –festgelegt! Wie hart gefrorene Emotionen, wie Theatermasken, hinter denen man bestimmte Figuren-Qualitäten besonders
ausdrucksstark darstellen kann. Und manche gar nicht. «Wer von denen ist wohl ...?» Irgendeine Variante dieser Frage bewegt an Thikwa-Theaterabenden sicherlich manchen Zuschauer, denn wer hier herkommt weiß, dass es auf dieser Bühne nicht exklusiv, sondern «inklusiv» zugeht. Schließlich spielen dort vorne vereint ganz «Normale» und «Gehandicapte», staatlich geprüfte Schauspieler und solche, deren Bühnenfähigkeiten im Rahmen einer zum Teil seit 20 Jahren andauernden Werkstattarbeit fortlaufend vertieft und erweitert wurden.
So sitzen wir im Publikum und fragen uns, wie sehr dem eigenen Urteil wohl zu trauen ist!? Wer sind die «echten» Schauspieler? Natürlich Dominik Bender, der «Spielleiter», mal mit, mal ohne Langhaarperücke, er verfügt über die volle Breite der Akteurs-Fertigkeiten. Mühelos fließen seine Mono- und Dialoge, er beherrscht seine Rolle, statt von ihr oder von allzuviel Eigenheit beherrscht zu werden. Aber sonst? Der ungeübte Zuschauer grübelt, glaubt hier ein Gesicht deuten zu können, macht dort eindeutig körperliche Einschränkungen aus, rätselt über Tonfall, Mimik und Gestus. Und merkt gar nicht, dass er dabei bereits die entscheidende Grenze überschritten hat. Denn Thikwa-Theater ist zuallererst Theater. Nicht Inklusion. Nicht künstlerische Werkstattarbeit. Nichts, das der geneigte Kulturbürger höflich-huldvoll beklatschen könnte, um sich danach und woanders der «eigentlichen Kunst» zu widmen.
Nein, wenn die Thikwa-Truppe auf der Bühne agiert, weht dem Zuschauer – wie in der Insze­nierung des Sommernachtstraums – dramatische Mittelalter-Luft entgegen, gut gemischt mit praller Shakespearscher Renaissance, barocker Fülle und zeitlos echtem Volkstheater. Heißt? Die da vorne spielen mit Leib und Seele, ohne den reflektierten Abstand von sich selbst, ohne den differenzierenden Intellekt der Moderne. Auch wenn nicht alle gleichermaßen tief in die Rollensubstanz ein­tauchen. Auch wenn nicht alle einfach so aus den Quellen unverstellter Intensität schöpfen.
Längst hat sich echtes Vergnügen in der Zuschauerseele ausge­-breitet. Vergnügen am unbekümmerten Spiel, Vergnügen am Vergnügen der Schauspieler, Vergnügen an den irritierenden Textbocksprüngen einiger «Spezialisten», allen voran «Herr Licht» und «Herr Dunkel». Dass gerade einmal nicht wirklich das ursprüngliche Manuskript die Choreographie bestimmt, sondern Lust und Laune einzelner Akteure, merkt man möglicherweise nicht unmittelbar, vielleicht aber am Gesicht des Spielleiters, dessen brilliantes Improvisationstalent mehr als einmal herausgefordert wird. Wirklich – es ist vergnüglich, in der Summe und als Resümee, selbst für einen Betrachter mit distanziertem und reflektiertem Reporter-Blick.
Zurück im Foyer beginnen erste Gespräche mit denen, die das «Thikwa» von außen mit Professionalität anreichern. Die Regisseurin Antje Siebers und Dominik Bender, der Schauspieler, dessen Virtuosität die ganze Schippel-Sippe lebendig verklammert hat. Schippels Traum ist Antje Siebers erste Arbeit fürs Theater Thikwa. Die Frage nach der Bedeutung des jeweiligen «Schau­spielerhandicaps» zielt für sie am Wesentlichen vorbei: «Krankheitsbilder interessieren uns in der Produktion nicht. Wir arbeiten nicht unter sozialen und therapeutischen, sondern unter kreativen Aspekten. Und da offenbart sich ein unglaublicher Reichtum.»

Die Regisseurin schwärmt – von der Authentizität der Arbeit. Dem Charme. Der künstlerischen Freiheit. Dem allgegenwärtigen Lachen.
«Sehr besonders ist der Humor – und dass in der geschützten Thikwa-Atmosphäre der eine über den anderen lachen darf. Aber immer liebevoll und anerkennend!»

Tatsächlich, die Erfahrungen gleichen sich, auch bei Dominik Bender:
«Man muss immer darauf achten, dass man die Leute nicht vorführt und ausstellt. Das hier ist keine ‹freak show›. Es geht um würdevolle Präsenz. Darum, dass sich die Schauspieler an einem solchen Abend wohlfühlen, aufgehoben in dem, was sie machen – nur dann bekommt die Arbeit für sie Schlüssigkeit.»

Fröhliche Grenzwanderung

Dass dieser Theaterabend schlüssig und gelungen ist, verdankt der Verein Thikwa e.V. nicht zuletzt seinen haupt- und nebenamt­lichen Trainern. Schauspielern wie Dominik Bender. Tänzern wie Edsel Scott und Makiko Tominaga. Ihre tägliche Arbeit in den seit Oktober 2010 neu bezogenen, lichten Räumen auf der Fidicinstraße im Chamissokiez ist eine Art fröhliche Grenz­wanderung. Und jeder, der während dieser Übungen im gleichen Raum sitzen, zusehen und zuhören darf, macht eine unerwartet beglückende Erfahrung. Ganz gleich ob Dominik Bender «Wer hat Angst vorm schwarzen Mann» mit seinen Schülern spielt, Zungenbrecher übt («Wenn du denkst, du denkst, dann denkst du, du denkst!») und sie Worte zu Emotionen ausformen lässt («Ja-Ja-Ja-Ja. Nein-Nein-Nein-Nein.»). Ob Edsel Scott ihre Gliedmaßen lockert und von einigen ihrer Lasten befreit. Oder ob Makiko Tominaga mit kleinsten Gesten, Schritten und Drehungen sichtbaren Sinn aus den mehr oder weniger an ihren Leib Gefesselten herauslockt.
Überhaupt – «Sinn»! Wenn dieser Begriff unmittelbar für eine menschliche Arbeit gilt, dann sicherlich hier. Das sieht man. Und die Lehrer sagen es auch: «Geduld? Sicherlich braucht man die. Aber vor allem Interesse! Man muss sich interessieren, um flexibel auf den Moment eingehen zu können. Das ist ein Luxus; wo kann man das denn sonst noch?» – «Man muss ihnen das auch manchmal sagen: Was ihr hier macht, könnt ihr sonst nirgendwo machen! Wir machen manchmal Quatsch und dummes Zeug, aber macht bitte mit! Wenn sie das kapiert haben, ist die Arbeit extrem lustvoll, dann freuen sie sich auf die Stunden und wir auch!»
Und wer denkt: «Auch wenn die Thikwa-Schauspieler das empfinden – aber ob sie wissen, was sie tun?», der unterhalte sich mit Martina Nitz oder Peter Pankow! Die eine, feinsinnig und klug, an den Rollstuhl gebunden, Sprache und Körper durch früh­-kindlichen Sauerstoffmangel von Spasmen herausgefordert. Der andere, Pressesprecher der Thikwas, umgeben von einem schweren, raumgreifenden Körper, außerdem laut, polternd, omnipräsent. Und beide seit über zwanzig Jahren dabei.
Martina Nitz: «Traurig sein oder fröhlich – im realen Leben versteckt man viel, aber auf der Bühne kann man das rauslassen.» – «Man soll mit Lust zur Arbeit gehen, wenn nicht, kann man auch zuhause bleiben.» – «Beim Üben spielen sie schöne Musik, da kann man den Körper frei werden lassen und ein bisschen durch die Luft schweben.»
Peter Pankow: «Ich rede ganz gerne!» – «Ich bin sehr dick, aber ich kann mich, wenn ich trainiere, sehr leicht bewegen!» – «Ich mache das sehr professionell und mit sehr viel Stolz!» – «Ich guck mir die Leute an, geh’ ins Kino. Manchmal hab’ ich gute Ideen. Dann denk’ ich: Was will ich malen? Was ist die Schönheit? Was ist die Kunst? Wie ist das Leben?»
Und nicht nur Peter Pankow, die ganze Truppe hat immer wieder gute Ideen, Gedanken, von denen man wünscht, irgendjemand hätte sie aufgeschrieben. Und warum eigentlich nicht? «Was mir über das Spielen hinaus wahnsinnig viel gebracht hat, war, dass wir die Leute nicht nur als Darsteller, sondern auch als Autoren entdeckt haben. Weil sie uns helfen, neue Sinne zu öffnen, durch die Art und Weise wie sie denken und die Welt sehen.» So beschreibt es Dominik Bender, und so machen sie das bei den «Thikwas» und schreiben sie auf, die einzelnen Sätze, Dialoge, Szenen. Bühnenreif. Innen erfühlt und sinnerfüllt. Für alle, die Lust haben auf ein Bühnen­abenteuer.*




*Auch wenn der Artikel auf die Thikwa-Theaterarbeit fokussiert ist – die Bildende Kunst (Grafik, Malerei, Plastik etc.) nimmt innerhalb der täglichen Werkstatt-Arbeit einen gleichberechtigten Raum ein. Auch hier gilt der Grundsatz, dass regelmäßig externe Künstler zur Zusammenarbeit und Begleitung der Thikwa-Künstler eingeladen werden.