Titelbild Hochformat

Eckhard Roediger

Besser leben lernen

Nr 161 | Mai 2013

Wir leiden an unseren Vorstellungen

Im Lauf unseres Lebens stellen wir uns zu ganz unterschiedlichen Zeiten und aus ebenso unterschiedlichen Gründen die Frage, ob wir mit unserem Leben zufrieden sind. Zwischen Wunsch und Wirklichkeit gespannt fällt die Antwort nicht immer positiv aus. Wie aber gelingt es, die befriedigende Mitte zwischen den Polen, zwischen Neuem und Gewohntem, Euphorie und Langeweile zu erreichen – und zu halten?
Aus dem Buddhismus wissen wir: «Das Leid kommt vom Be­gehren». Wir leiden immer dann, wenn das Leben sich nicht an unsere Vorstellungen halten will! Sind unsere Vorstellungen mächtiger als das Leben, mächtiger als das Schicksal?
Gewiss, wir kommen als Menschen auf die Welt mit der Möglichkeit, etwas zu bewegen. Und wer keine Ideale hat, keine Vorstellungen, hat auch kein Ziel, auf das sich die Willenskräfte richten können. Aber dieser «harte», zielgerichtete Wille kann sich an den Widerständen brechen, die das Schicksal uns in den Lebensweg legt. Dann müssen wir unseren Lebenssinn neu ausrichten. Dieser Aufgabe können wir uns trotz aller Schmerzen nicht entziehen! In ihr steckt aber auch die Chance zu einem ausgewogeneren, bewussteren und «persönlicheren» Leben. In dieser Situation helfen Mut und «harter Wille» nicht weiter. Statt Mut brauchen wir «De-Mut», auch wenn das Loslassen unserer geliebten Vorstellungen schwer fällt.
Zunächst müssen wir die Lebenssituation bedingungslos so an­erkennen, wie sie ist. In einer gewissen Weise müssen wir kapitulieren und das – zumindest teilweise?– «Versagen» unseres bis­herigen Lebensentwurfes anerkennen. Das tut weh! Aber erst dieses schmerzhafte Opfern der gewohnten Vorstellungen macht den Weg frei für die noch möglichen kleinen Lösungen, die wir vorher oft gering geschätzt hatten. Wir müssen wieder lernen, uns über einen kleinen Schritt zu freuen und nicht immer auf das zu sehen, was wir noch nicht geschafft haben. Dies nennt man auch die sogenannte «Positivitätsübung».
Es gibt keinen objektiven Maßstab, ab wann etwas «gut» oder ein Erfolg ist. Es ist eine Frage der Erwartungen bzw. der inneren Einstellung. Wer sich von seinen Vorstellungen lösen kann und weniger erwartet, wird leichter positiv überrascht werden, wenn etwas gelingt. Und wenn wir dann das rechte Augenmaß haben, das Mögliche anzugehen, haben wir eine gute Chance, Momente der Freude zu erleben. Das ist ein Aspekt von Lebenskunst.


Der Mensch erhofft sich heimlich still,
dass er einst das kriegt, was er will,
bis er dann doch dem Wahn erliegt
und endlich das will, was er kriegt.

Eugen Roth