Ralf Lilienthal

Ein magischer Ort

Nr 162 | Juni 2013

Das Erfahrungsfeld der Sinne EINS + ALLES

Wenn die Besucher der Welzheimer Freizeiteinrichtung EINS + ALLES erwartungsvoll die sattrot gestrichene «Tieroase» passiert haben, werden sie nur ahnungsweise wissen, wo genau sie sich eigentlich befinden. Dabei ist die räumliche Verortung im Schwäbisch-Fränkischen-Naturpark zwischen Stuttgart und Schwäbisch Gmünd noch die leichteste Übung. Was dagegen ein «Erfahrungsfeld der Sinne» ist und dass dieses Erfahrungsfeld unter anderem durch seine Land-Art-Elemente* einen ganz unverwechselbaren Charakter hat, muss sich der Erlebnissuchende wohl zumeist anlesen oder erklären lassen. Doch dass er sich in der «Roten Achse», im «Klang-Wald» oder auf dem «Labyrinthweg» mitten in einer «Werkstatt für behinderte Menschen» bewegen soll, dürfte ihm in etwa so glaubwürdig wie eine Münchhausen-Geschichte erscheinen.
Aber sie sind wirklich da – «die Behinderten»: an der Kasse, im Restaurant Molina, während einer Lama-Wanderung – freundliche, hilfsbereite Geister, auch wenn nichts Verhuschtes und Schweben­des ihre offene, zugewandte Präsenz umweht. Sie sind da. Man nimmt das anfangs zur Kenntnis, doch es sinkt nach und nach in die Tiefen unseres spiel- und experimentierfreudigen Geistes ab und wird unwichtig. Denn, wenn es gut geht, wenn wir selbst halbwegs «normal» sind, wirkt dieser Ort genauso auf uns: Er befreit uns, indem er uns fesselt, er löst den Zauberbann, der uns im Alltäglichen gefangen hält, indem er uns in seinen eigenen Bann zieht. Er ist doppelt magisch.
Wie und wo wir in diesen Gegenstrom gezogen werden, sieht sicherlich bei jedem etwas anders aus. Der eine wirft bereits auf der Balancierscheibe seine Alltagshaut von sich, ein zweiter wird auf der Partnerschaukel und mit geschlossenen Augen sanft hinweg-getragen. Doch ganz gleich durch welche der Stationen in der Welt von EINS + ALLES wir die vertrauten Verhaltens-Wege verlassen, immer machen wir dabei die doppelte Erfahrung des Tuns und Zulassens.
Tun? Das Erfahrungsfeld der Sinne bringt uns auf tausendundeine Art in Aktion. Gehen und stehen, blinzeln und starren, anfassen und fühlen, erklingen lassen, trommeln und rascheln, klettern, balancieren, vorwärtstappen und anstoßen, führen und geführt­werden, riechen, schmecken, streicheln, ergreifen, reiben und Wärme empfinden. Was hier geschieht, ist so ziemlich am anderen Ende der Welt angesiedelt als die unsinnlich-virtuellen Spielereien unserer modernen, digitalen Smartphone-Tablet-Online-Matrix. Ohne unsere eigene, wenngleich spielerische Anstrengung ist hier nichts zu haben.
Ohne aufmerksames Zulassen auch nicht. Denn was immer wir im Erfahrungsfeld tun, setzt anderes in Gang. Dort draußen – als Eigenbewegungen, Töne oder Formen. In uns – als Empfindung, Erfahrung, Gefühl und Erkenntnis. Und zwischen uns und anderen Besuchern, die häufig gruppenweise und angeleitet die Wege durchlaufen.
Zulassen - auch das ist ungewöhnlich und unserem zweck- und zielvollen Alltagshandeln entgegengesetzt. Kein Wunder, dass bei EINS + ALLES nicht nur Kinder die Zeit vergessen und sich ganze Tage lang dem Zauber des Ortes hingeben.

Ein Ort mit Geschichte und Geschichten

Wer – im Schnellkurs – einen Blick hinter den Vorhang werfen und die besondere Mixtur dieser Institution verstehen will, muss irgendwann vor 1564 mitten im Wald beginnen. Dort, unweit eines kleinen Wasserfalls, stand die Laufenmühle und tat jahrhundertelang, wozu sie gebaut worden war. Wurde dann Gasthof, Hotel und leider auch Zwangsarbeiterlager. Kriegswaise waren hier zuhause, Kriegsmüde haben sich hier erholt. Und weil es im stillen Wieslauftal auf eine gute Art still und erholsam war, begründeten drei engagierte Frauen 1951 eine Lebens- und Bildungs­stätte für 40 geistig behinderte Kinder und Jugendliche an diesem Ort. 1973 fusionierte man mit dem nun namengebenden Christopherus-Heim, verschrieb sich mehr und mehr der heilpädagogischen Erwachsenenbetreuung, baute um, bekam Holz­werkstatt, Spinnstube, Weberei, Töpferei und Knüpferei dazu.
Als die harte Feder der Sozialgesetzgebung den Behinderten­ein­richtungen eines Tages die «Inklusion» in die Agenda schrieb und handfeste Forderungen damit verband, kam das in der Idylle des abgelegenen Waldtals einem Erdbeben gleich. Denn wie bewahrt man die Segnungen der «Splendid Isolation», ohne auf bereichernde Begegnungen zu verzichten? Wie finden sich die Betreuten auf gesunde Art im Strom des «realen Lebens» zurecht? Und vor allem: Wie lässt sich das ohne den logistischen GAU eines Umzugs in die Stadt bewerkstelligen?
Mit solch dramatischen Forderungen sah sich 2003 der neue Ge­schäfts­führer der Christopherus Lebens- und Arbeitsgemeinschaft Laufen­mühle, Dieter Einhäuser, konfrontiert. Der gelernte Kaufmann und Sozialpädagoge musste die Institution gewissermaßen neu erfinden, eine Übung, der er sich in seinem eigenen Leben bereits mehrfach ausgesetzt sah – Spektakuläres inbegriffen: «Als ich 28 war, habe ich mich mit meinem VW-Bus samt Waschmaschine drin, dreimal überschlagen, keine Verletzung davongetragen, dafür das Gefühl: Es ist nicht erwünscht, dass du jetzt von diesem Planeten verschwindest. Allerdings steht offensichtlich ein Cut an!»
Cuts, tiefe, teilweise schmerzvolle Einschnitte, waren auch in der Laufenmühle nötig. Vor allem aber brauchte es eine wegweisende Idee, «ein Ziel, das außerhalb unserer Einrichtung liegen musste und so groß war, dass es sämtliche Bereiche verwandeln konnte.
Bei dem jeder hier das Gefühl haben würde, das hat etwas mit mir zu tun!» Und das außerdem den strengen Inklusionsmaßstäben genügen würde.
Die – wie das fehlende Zauberkraut – alles verwandelnde Idee, den Katalysator, der aus den richtigen Zutaten das wirksame Agens werden ließ, fand Dieter Einhäuser in der Ideenwelt des Künstler­pädagogen Hugo Kükelhaus. Dessen Konzept eines «Erfahrungsfelds zur Entfaltung der Sinne» war seit den 1960er Jahren an verschiedenen Orten erfolgreich und publikumswirksam umgesetzt worden. Und auch hier, gerahmt von einer großartigen Waldlandschaft, verbunden mit dem «Werkstatt-Gedanken», umgesetzt von kongenialen Architekten und Land-Art-Künstlern, erwies es sich als über­-aus fruchtbar.
«Lothar Bracht, unser Architekt, hat als Erstes, von der Straße gut sichtbar, den Stall der Tier-Oase gebaut – rot leuchtend, mit dem weißen Schriftzug EINS + ALLES.»* Überhaupt wurde es mit schnellen Schritten bunt, hell und freundlich in dem dunklen Tal. Denn als das Konzept zu leuchten begann, als zuerst eine Handvoll Mitarbeiter davon ergriffen und begeistert war, als eine Bank ge­wonnen und einige lokale Entscheidungsträger überzeugt waren, ging es vor und nach der Eröffnung am 7.7.2007 Schlag auf Schlag: Das Café-Restaurant Molina, der Aktionsplatz mit den Kükelhaus-Basisstationen wurden gebaut, und der «Weg», ein dreieinhalb Kilometer langer Sinnes-Erlebnis- und Land-Art-Pfad, wurde durch den Wald gebahnt. Was noch? 2008 der Dunkelbereich. 2009 die Indoor­installationen der «Roten Achse». 2010 die biologische Kaffeerösterei el molinillo. 2011 der Roll­stuhlsteg ...

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Fotos: © Charlotte Fischer – www.lottefischer.de

Was von weitem wie ein ganz gewöhnlicher Freizeitpark mit immer neuen Attraktionen erscheinen mag, zeigt in der Nahperspektive ein ganz anderes Gesicht. So ist die ebenfalls 2010 errichtete «Kathedrale aus lebendigen Weidenruten» ein echter Hingucker. Doch erst wer weiß, dass sie in einer sozialtherapeutischen Gemeinschaftsarbeit von Christopherus-Betreuten und Schülern aus dem Umfeld der Amoklauf-Gemeinde Winnenden entstanden ist, sieht den faszinierenden Naturbau im richtigen Licht.
Nein, ein gewöhnlicher Freizeitpark sieht anders aus. Glatter. Lauter. Aufdringlicher. Und weniger lustvoll! Denn wohin das Auge in der Landschaft von EINS + ALLES auch wandert, überall stößt es auf die Zeugnisse vergangener und gegenwärtiger Lebens- und Schaffensfreude: In der Molina liegen Salatgemälde auf den Tellern, und an der Wand hängen die Schuh-Geweih-Kunstwerke Hansjörg Palms. In der Rösterei schwelgt der Duft punktgenau gebrannter Arabicabohnen, aufsteigend in einer Atmosphäre von Eifer, Begeisterung und Gegenwärtigkeit, wie sie nur Menschen aufbringen können, die reinen Herzens sind – auch und vielleicht gerade, wenn ihr Geist in Fesseln geschlagen ist.
Und, wie so oft, kristallisiert sich für den Beobachter das gute Ganze auch hier in einer unscheinbaren Szene. Die Darsteller: Thomas und Moritz, Betreute. Sarah, Anerkennungspraktikantin und erfahrene Reiterin. Benny und Samantha, zwei sehr unterschiedlich geartete Esel. Die Handlung: Eine Tierwanderung zum neuen Eselstall, Alltagsprosa ohne erkennbare Dramaturgie. Und doch anrührend schön und ein Lehrstück in Sachen Inklusion. Warum? Weil die tiervirtuose Praktikantin in jedem Moment das Angemessene tut und dabei doch immer so viel Raum lässt, dass die Betreuten ihr Eigenes hinzutun können. Weil Thomas freundlicher Tier-Spezialist ist, schüchtern und doch in der Sache strahlend-mitteilsam. Und weil Moritz, etwas linkisch und noch neu im Tieroasen-Geschäft, gerade etwas gelernt hat, was ihm ein Fünfjähriger beibringen könnte, und weil er sich unverstellt wie ein Fünfjähriger darüber freuen kann. Und weil der Reporter für eine Stunde einfach so dazugehören durfte – ein Musterbeispiel für die Inklusion des «Normalen» im «Ungewöhnlichen»!

EINS + ALLES ist ungewöhnlich. Und manchmal auch ver­-wegen – denn wie anders soll man das hochsommerliche Open-Air-Tanzprojekt «Carmina» bezeichnen? Orffs willenbefeuernde Kantate, 150 Schüler- und Christopherus-Laientänzer, 150 Musiker und Sänger, Choreographen und Tänzer wie Wolfgang Stange, Royston Maldoom und Jo Ann Endicott, Lichtkünstler, Tonkünstler, Seiltänzer, Filmer vereint in der schwäbischen Provinz – zusammengerufen durch eine verrückte Idee der Einhäusers, Vater und Sohn. Verwegen? «Ich war selber erstaunt, wieso das alles gelingen konnte und habe immer gefühlt, dass gar nicht ich das bin, sondern dass etwas durch mich durchfasst. Und das ist viel höher und größer als ich.»