Birte Müller

Schneewittchen und die sieben Zwerge

Nr 162 | Juni 2013

Willi muss noch viel lernen. Eine Sache, die für ihn schwierig ist, ist das Spielen. Er kann noch keine Rollenspiele und hat mit seinen sechs Jahren noch nie so getan, als sei er ein Pirat oder ein Löwe. Willi kann auch keine Regelspiele verstehen, er kann nicht Topfschlagen oder auch nur das Prinzip von «Sich-gegenseitig-Fangen» begreifen. Mir tut das leid für ihn, denn das macht sein Leben in meinen Augen ärmer als das anderer Kinder. Aber vielleicht tue ich mir auch nur selber leid, weil ich es mir eben wünschte, meinen Sohn im Piratenkostüm zu bewundern (na ja, und dann wäre ein Kind, das sich mal länger als ein paar Minuten selbst beschäftigen kann, natürlich auch ganz nett). Aber im Prinzip ist es Willis kleine Schwester Olivia, der manchmal ein Bruder fehlt, mit dem sie wirklich etwas spielen kann. In ihren Spielen taugt Willi höchstens als Statist: «Mama, ich bin Schneewittchen und Willi ist die sieben Zwerge.»
Natürlich spielt Willi auch, aber der Ablauf dieser Spiele ist streng festgelegt und extrem monoton (und eine Zwergenmütze nimmt er dabei ganz sicher nicht auf den Kopf). Auch muss das Spiel für Willi SOFORT beginnen, nur eine Minute Vorbereitungszeit wäre schon zu lang, um sein Interesse zu halten. Willis liebstes Spiel zurzeit ist «Schnecke füttern»: Man muss eine Handpuppe anziehen und Willi füttert sie nacheinander mit eigens dafür gehäkelten Lebensmitteln. Wenn die Schnecke nicht schnell genug frisst, kann Willi sehr böse werden. Wenn die Schnecke dabei rülpst und pupst, kann Willi sehr fröhlich werden. Aber es gibt wenig Spielraum in Willis Spiel, man muss sich sklavisch an seine Vorgaben halten, sonst fliegt einem die Schnecke samt Verpflegung um die Ohren.
Olivia spielt ganz anders als Willi, mit unendlich vielen Variationen und Rollen, in die sie schlüpft. Die Vorbereitungen sind dabei oft wichtiger als das Spiel selbst. Aber dass sie sich dabei wirklich selbst beschäftigt, könnte ich auch nicht gerade sagen. Olivia bittet mich zum Beispiel direkt vor dem Abendbrot, ob sie sich als Schneewittchen verkleiden darf. Ich sabbel mich dann eine Weile mit ihr ab, und wir einigen uns darauf, dass wir NACH dem Essen noch kurz spielen – unter der Bedingung, dass sie dann ganz lieb ins Bett geht. Ich müsste es eigentlich besser wissen, aber trotzdem glaube ich immer wieder daran, dass das der einfachere Weg ist, als nein zu sagen und einen kleinen Zickenanfall
über mich ergehen zu lassen. Nach einem Bissen vom Brot entschwindet die Prinzessin in ihr Zimmer. (Auch darin unter­scheiden sich meine Kinder sehr: Angesichts einer Scheibe Schwarzbrot mit Salami wirft Willi jedes Spielzeug sofort hinter sich.) Ich lasse Olivia in dem irrigen Glauben gehen, dass ich so wenigstens Willi in Ruhe fertig machen kann. Während Willi also Brote für gleich sieben Zwerge verdrückt, habe ich alle drei Minuten meine quengelige Tochter an der Backe, für die ich das Schneewittchenkleid suchen muss, die genau richtige Strumpf­hose, den weißen Kragen zum Anknöpfen, das ganz bestimmte Hemdchen für drunter, die goldenen Schuhe, und spätestens bei der Suche nach dem verdammten goldenen Haarreifen ist meine Geduld am Ende und das Zimmer sieht zehnmal schlimmer aus als nach einem Schnecke-falsch-gefüttert-Anfall von Willi! Wenn ich die sieben Zwerge dann im Bett habe und Schnee­wittchen endlich perfekt aufgedonnert ist, wir das Thema Schmin­ken fertig ausdiskutiert haben und es eigentlich schon absolute Schlafenszeit ist, können wir immer noch nicht spielen, denn Schnee­wittchen muss erst noch einen Koffer packen! Ich bin mir dann gar nicht mehr so sicher, ob Olivia wirklich besser spielen kann als Willi, aber auf jeden Fall kann sie das Zubettgehen besser hinauszögern. Hunger hat Schneewittchen dann übrigens doch noch, und den Zickenanfall bekomme ich am Ende natürlich auch
noch ab …