Titelbild Hochformat

Hervé Jaouen

Nr 162 | Juni 2013

Wenn unbeschwerte Jugend auf den Tod trifft

Häufig ist die Inspiration nur ein kleiner Kern der Realität, der die Phantasie zum Keimen bringt. Im Roman Pardon, Monsieur, ist dieser Hund blind? ist der Anteil der Realität sehr bedeutend. Die Omama meines Buches, die ich auf Französisch «Mamie Mémoire» genannt habe, war die unserer besten Freunde, mit denen wir unsere meisten Freizeitvergnügungen – Angeln am Fluss, Ausflüge, Reisen – verbracht haben und noch immer verbringen. Als Omamas Zerstreutheit zur ernsthaften Schwierigkeit wurde, hat ihre Tochter, unsere Freundin, es so eingerichtet, dass sie sie bei sich aufnehmen konnte, anstatt sie in einer Einrichtung unterzu­bringen. So haben wir sie oft getroffen, fast jedes Wochenende, entweder bei unseren Freunden oder bei uns.
Zu Beginn ihrer Krankheit, sagen wir es ganz ehrlich, waren die Begegnungen oft sehr lustig – die kleinen Streiche, die ihr ihre beiden Enkel spielten, ihre Dummheiten, die sie beging, die
Ver­wirrung zwischen ihren verschiedenen Lebensphasen, ihre Be­merkungen. Das ging so weit, dass unsere Freunde mir sagten: «Irgendwann musst du einmal ein Buch darüber schreiben.» Mit diesem Ziel haben sie begonnen, Aufzeichnungen zu machen. Einiges hätte ich mir niemals ausdenken können, zum Beispiel die Anekdote über den Voyeur und den Hund, der eine schwarze Brille hätte tragen sollen: Diese Szene hat sich wirklich an einem Strand in der Bretagne zugetragen.
Dann wurde Omama vollkommen pflegebedürftig. Ich habe weiter Notizen gesammelt. Sie wurden immer düsterer und ich fragte mich, wie sich ein so ernstes Thema als Roman gestalten ließe? Bis ich die Idee hatte, das Buch aus der Sicht eines dreizehnjährigen Mädchens zu schreiben, das pfiffig, sensibel, geistreich und eine gute Beobachterin wäre. So würde die liebenswerte Unbeschwertheit der Jugend dem bevorstehenden Tod eines alten Menschen gegenüberstehen, damit es zu einer Verschmelzung der beiden kommen könne.
Ich denke, dieser Roman ist sowohl eine Erzählung über die Alzheimer-Krankheit wie auch eine Geschichte der Entwicklung eines Mädchens, das durch die Konfrontation mit der Krankheit ihrer Großmutter plötzlich erwachsen wird und beginnt, das Leben und den Tod zu begreifen. Am Ende des Buches ist Véro bewusst, dass die Erinnerung der uns lieben Menschen, die uns auf dieser Erde vorangegangen sind, ein Schatz ist, der häufig ignoriert wird und sorgfältig bewahrt werden sollte.
Was Omama betrifft, so habe ich ihre Vergangenheit, ihre Schön­heit, ihre Erziehung, ihre gepflegte Sprache und die Tatsache beibehalten, dass sie bis zu ihrem letzten Atemzug liebevoll umsorgt wurde. Scheinbar habe ich das Wichtigste der Entwicklung der Alzheimer-Krankheit ziemlich genau wiedergegeben, denn als ich den Preis der französischen «Stiftung für Gerontologie» erhielt, sagte mir die Präsidentin, eine Ärztin, dass sie das Buch an die Krankenschwestern ihrer Abteilung verteilen werde.
Was Véro, die Erzählerin angeht, so habe ich vieles von unserer jüngsten Tochter übernommen (insbesondere die Verehrer, die aus dem Ausland anrufen!). Sie hat es mir verziehen. Nun, ich nehme es an. Ihr Bruder trägt viele Züge des Sohnes unserer Freunde.
Was den frei erfundenen Part betrifft, so brauchte ich noch ein paar «böse Charaktere», um die Handlung glaubwürdig erscheinen zu lassen, denn tatsächlich brechen unter solchen Bedingungen in den meisten Familien Konflikte aus.
Das Buch wurde für die Bühne bearbeitet und zur Première lud ich unsere Freunde ein. Dabei erlebten wir einen gewaltigen Schock: Die Schauspielerin, die die Omama verkörperte, ähnelte ihr auf
einzig­artige Weise. Omama war auferstanden! In mehr als zwölf Sprachen ist sie jetzt schon unsterblich geworden, nun auch auf Deutsch. Ich höre sie von oben herab sagen: «Unsterblich, ich? Aber gewiss! Und ihr seht, dass ich darüber durchaus entzückt bin!»


Aus dem Französischen von Corinna Tramm