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Wilhelm Hoerner

Zeit und Rhythmus

Nr 163 | Juli 2013

Morgen und Abend – Zeiten des Übergangs und des Gebets


Tragen wir die vier Tageszeiten auf einem Kreis derart ein, dass ganz oben der Mittag und unten die Mitternacht stehen, dann zeigt dieses Tageskreuz die beiderseits in der Mitte stehenden Orte für Morgen und Abend. Dieses Bild des Tages ist zugleich ein Bild des Jahres im Kleinen.
Morgen und Abend sind die ausgleichende Mitte zwischen Mittag und Mitternacht, zwischen Licht und Finsternis. Morgen und Abend halten exakt diese Mitte zwischen Tag und Nacht zu den Zeiten der Tagundnachtgleichen im Frühling und Herbst. Das Ganze des Tages umfasst die vier Tageszeiten als Glieder ent­sprechend dem Atem des Menschen und den eingeordneten vier Pulsschlägen. Ein nach innen gewendetes Verhältnis 1 : 4 tritt hier wie bei den Jahreszeiten in Erscheinung.
Die Aufteilung von Licht und Finsternis, von Tag und Nacht ist nicht überall auf der Erde und nicht zu allen Jahreszeiten die gleiche. Am Erdäquator ist jeder Tag des Jahres mit je zwölf Stunden Licht und Nacht ausgeglichen, auch wenn die Auf- und Untergangsorte der Sonne sich verschieben. Wenn die Sonne im Himmelsäquator steht, dann geht sie an jedem Erdenort genau im Osten auf und im Westen unter. Das ist um den 21. März und um den 23. September der Fall. Dies sind aber nicht die Tage, an denen Licht und Dunkelheit in unseren Breiten je eine Tageshälfte einnehmen, d.h. die Sonne genau 12 Stunden über und 12 Stunden unter dem Horizont ist. Die genaue Tag- und Nachtgleiche ist im Frühling bereits am 18. März und im Herbst erst am 26. September. Dies ergibt sich aus der elliptischen Bahn der Erde um die Sonne. Im Sommer wird ein längerer Teil durchlaufen als im Winter. Dadurch beträgt die Länge des Sommerhalbjahres 186 ½ Tage. An diesen Tagen ist die Sonne länger als 12 Stunden über dem Horizont. Im Winterhalbjahr ist nur an 178 ¾ Tagen die Nacht länger als der Tag. Auch die Refraktion ist an dieser Ver­schiebung beteiligt. Durch die Brechung der Lichtstrahlen beim Durchgang durch die Lufthülle der Erde erscheint das Gestirn für das Auge des Beobachters ein wenig gehoben. Es geht dadurch früher auf und später unter. Der Tag wird länger. Die Tagund­nachtgleichen werden in Richtung der dunkleren Jahreshälfte verschoben. Diese Verhältnisse gelten für den Sonnenmittelpunkt.
Für die Beobachtung des oberen oder unteren Sonnenrandes am Horizont kommt die Lage der Ekliptik in ihrer Abhängigkeit von der geographischen Breite des jeweiligen Beobachtungsortes hinzu. Wir haben auf der nördlichen Halbkugel durch die geschilderten Verhältnisse in der gegenwärtigen Erdenzeit rund sieben bis acht längere Sonnentage mehr als am Äquator und auf der Südhalb­kugel. Das ist ein Lichtphänomen, das nachdenklich machen kann.
Morgen und Abend haben ihre Dämmerungszonen als Zeiten des Überganges. Anders als den Extremen Mittag und Mitter­nacht, wohnt ihnen ein ausgleichendes, verbindendes, heilend-vermittelndes Wesen inne. Die Nacht bringt ihre Erfrischung und ihren Segen in den kommenden Tag mit. Der Tag ist am Abend überschaubar und das Erreichte wie auch das Nichterreichte dürfen der Mutter Nacht zur Bewahrung übergeben werden. Morgen und Abend sind Zeiten der Besinnung auf das In- und Miteinander von Geistwelt und Sinneswelt, von Himmel und Erde. In diesen Zeiten schafft das Licht im Ringen mit dem Dunkel die schönsten Farben. Sonnenaufgang und Sonnenunter­gang sind die stillen und großen Ereignisse des Tages. Morgen und Abend sind die Zeiten, welche die Natur für den Menschen bereithält zum Gebet.