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Wolfgang Schad

Goethes Weltkultur

Nr 164 | August 2013

Es gibt wenige Naturwissenschaftler, die Goethes Art der Welterfahrung und Naturerkenntnis so für die eigene Zeit gegenwärtig gemacht und für fruchtbar gezeigt haben wie der Evolutionsbiologe Professor Wolfgang Schad. Im Monat von Goethes Geburt, am 28. August 1749, vor 8 mal 33 Jahren, sei hier an seine «Weltkultur» erinnert. (Lin)

«Meine Arbeiten können nicht populär werden.» Ich habe mich oft gegen diese Äußerung Goethes (zu Eckermann am 11.10.1828) gesträubt. Warum denn nicht? War die Äußerung resignativ oder realistisch gemeint? Galt sie nur für das 19. Jahr­hundert oder noch sehr viel länger? Oder sprach sich darin die Vereinsamung des Greises in dem verhockten und verklatschten Weimar aus? Erst Steiners geistiger Realismus machte mir deutlich, was wohl vorliegt: Der Mensch will immer mehr, als er kann. Die Großen wissen deshalb um die eigene Imperfektibilität. Albrecht Dürer schilderte einmal, wie ihm das im Alter zunehmend bewusst wurde. Goethe wusste um die Abbrüche und Lücken im Faust, und seinen Wilhelm Meister beendet er bewusst mit der Klammer:
«(Ist fortzusetzen)». Steiner bilanzierte, die wertvollsten Werke Goethes seien die unvollendeten, nämlich das, was jeweils doch nicht mehr fertig wurde: die Geheimnisse, die natürliche Tochter, die Pandora, die Nausikaa, der Zauberflöte zweiter Teil, der Roman über das Weltall (den er Schelling überließ). Wir kennen zumeist nur das Niedergeschriebene. Aber ein scharfer Kenner Goethes, Johann Heinrich Merck, sagte einmal zu ihm: «Was du lebst, ist besser, als was du sprichst; was du sprichst, ist besser, als was du schreibst; was du schreibst, ist besser als das Gedruckte.» (WA I 36: 232).
Was ist es denn, was er lebte? Diesen immer werdenden und nie fertig gewordenen Goethe gibt es wohl weiterhin, weil er noch lange nicht ins Dasein geronnen ist. Dem weiterhin werdenden Goethe, wie er sich in jedem Goetheleser zwischen den Zeilen neu formt, geht das hiesige Interesse letztlich nach. Denn auch das hat noch so viel Ungeronnenes, weil oftmals poetisch Verschleiertes, ja bewusst Verstecktes, dass es sich gerade dadurch so schwer popularisieren lässt. Und doch ist Goethe eine Weltkultur, weil sie oft und oft das verengt Nationale in der Kultur, das verengt Konfessionelle in der Religion und das verengt Reduktionistische in der Naturwissenschaft floh. So pointierte einmal Adolf Muschg (in: Die Zeit, 29.5.1981) mit der Assoziation des einstigen Eisernen Vorhangs: «Goethe als Fluchthelfer.»
Kam man 1999 nach Weimar zur runden Zahl des 250. Geburts­tages, so war bald deutlich: Goethe hat bisher noch jede Ver­fremdung überstanden – die der Romantiker, die der Bieder­meierzeit, dann die Wilhelminische Ära mit noch so vielen nationalistischen Goethefeiern. Die Väter der Weimarer Republik flüchteten sich zwar ins Nationaltheater der Stadt, weil es ihnen in Berlin politisch zu riskant geworden war. Aber auch die braune wie die nachfolgende rote Flut verebbten voraussehbar, und die der­zeitige Cola-Kultur wird er ebenso lebendig überdauern.
Das lag und liegt wenigstens an zweierlei: Goethe war sich etwa mit achtundzwanzig Jahren bewusst geworden, dass er keine private Biografie auszuleben, sondern eine menschheitliche Dimension zu üben hatte. Und alles blieb bei ihm keimhaft, wachs­tümlich voller Keimkraft, und wird deshalb für eine lange Zeit immer dann wieder zur Verfügung stehen, wenn die jeweiligen zu eng laufenden Wellen irgendeines geistigen Partikularismus wieder einmal nicht weiter können.