Birte Müller

Förderblödsinn

Nr 165 | September 2013

Als ich mit dem zweiten Kind schwanger war, wurde ich mehrfach darauf hingewiesen, dass ich aufpassen müsste, das Geschwisterkind neben dem behinderten Kind nicht zu vernachlässigen. Ein vollkommen überflüssiger Ratschlag, denn als Mutter eines behinderten Kindes hat man ohnehin schon ein Dauer-schlechtes-Gewissen, denn es gibt ja mehr Therapie­möglich­keiten, als der Tag Stunden hat, und wenn man sich nicht gerade Vorwürfe macht, weil man sein Kind nicht genug fördert, kann man sich wunderbar darüber sorgen, dass man es wo­möglich gerade überfordert. Wenn dazu dann noch Geschwister kommen, kann man es definitiv nicht mehr richtig machen.
Jetzt ist Willis kleine Schwester Olivia 4 Jahre alt, und man muss sich um sie keine Sorgen machen. Sie hat von Anfang an das Recht auf ihren Teil an Aufmerksamkeit vehement eingefordert. Ich habe das Gefühl, dass sie eigentlich mehr im Mittelpunkt steht als Willi. Allein durch ihre Fähigkeit zu sprechen, kann sie ihre Bedürfnisse so unendlich viel klarer ausdrücken als ihr Bruder. Auch liefert sie uns ständig die Freude neuer Wortschöpfungen. Wenn ein silberner Drache ganz glitzerlich ist oder sie abends ganz müdlich, und der Schmetterling im Garten bestimmt die Sorte Zitrone hat, dann kommen wir aus dem Freuen gar nicht mehr heraus. Außerdem malt sie, sie malt sich selber, mit Lippenstift, mit Krone, mit Zuckerwatte und immer wieder mit Mama, Papa und Willi (schaut es euch oben an!). Fast täglich schauen mein Mann und ich diesen winzigen Menschen an, der schon so unvorstellbar viel kann, ohne dass man irgend etwas davon jemals mit ihm geübt hätte!
Über Elternabende zum Thema Sprachförderung in Olivias Kita kann ich nur lachen: Was muss denn da gefördert werden? Das geht doch alles von selbst, einiges früher, anderes später. Zu dem Elternabend kamen über 50 Mütter! Offensichtlich wird auch den Eltern normaler Kinder erfolgreich ein schlechtes Gewissen eingepflanzt. Wenn man allein schon die bescheuerten Beschriftungen auf den Verpackungen von Gesellschaftsspielen oder Puzzeln liest. Da stehen so schöne Dinge wie «Förderung des genauen Beobachtens, Vergleichens und Zuordnens». Es ist doch wohl klar, dass jegliches Spielen für Kinder gut ist. Memory fördert das «Erinnerungsvermögen», ach was! Oder «Mit Pädagogen entwickelt!». Ob man da echt mehr Spiele verkauft, wenn man DAS draufschreibt? Für mich wäre das Prädikat «Pädagogisch wertvoll» schon eher ein Ausschluss­kriterium, so verkrampft klingt das. Sogar das Spielen soll effizient sein – nur dass es dann doch kein Spiel mehr ist! Irgendwie scheint es wohl eine Förderindustrie zu geben, die versucht, den Müttern das Vertrauen in die natürliche Entwicklung ihrer Kinder zu nehmen. Ich lasse mir zweckfreies Spielen mit Olivia nicht kaputtmachen vom allgemeinen Förderwahnsinn. Bei Willi ist das, zugegeben, etwas anderes: Er lernt nicht einfach nebenbei, ich bin ständig versucht, ihm irgendwie Förderung unterzujubeln.
Olivia hat aber maßgeblich dazu beigetragen, Willis Überthera­pierung zu vermeiden, denn ich kann mich ja nicht zweiteilen (Willi und mir hat das übrigens gutgetan, dass ich wieder Mama bin und nicht mehr Therapeutin, aber ein schlechtes Gewissen habe ich trotzdem noch). Am Abend ihres 4. Geburtstags erzählte Olivia mir, dass sie sich beim Auspusten ihrer Kerzen auch was für mich ge­wünscht hatte: «dass du 1000 Arme hast!» Ich war verwirrt. «Mama, du sagst doch immer, dass du leider nur zwei Arme hast.» Tja, vielleicht suche ich mal ein Spiel, auf dem steht: «Entspannt die Mütter und hilft ihnen, sich ohne Gejammer auf eine Sache zu konzentrieren.» Der Karton müsste dann wohl leer sein, damit die Muddi mal ne Stunde gar nichts macht. Kann man aber nur spielen, wenn alle Kinder schlafen und der Mann geputzt und aufgeräumt hat. Aber selbst dann wäre ich wohl nicht dazu in der Lage ...