Ralf Lilienthal

Präzise Phantasie – Die Künstlerin Daniela Drescher

Nr 166 | Oktober 2013

Ein heißer Hochsommernachmittag. Mauersegler sicheln schwarm­weise zwischen den Kirchtürmen und Fachwerkgiebeln des mittelalterlichen Stadtkerns. Eine Krähe putzt ihren abgewinkelten Flügel auf dem Dachfirst eines Wirtschaftshofs, das blauschwarze Gefieder leuchtet über silbergrauen Holzschindeln. Eine Etage darüber stechen Wasserspeierfratzen in den Himmel.
Während das Auge Zeitloses und Mittelalterliches fokussiert, zwingen die elektrisch verstärkten Rhythmen eines Musikfestivals den Reporter zurück in die Gegenwart. Es ist Tourismusterrain auf dem er sich bewegt, der Magnetismus einer Sehenswürdigkeit zieht ihn und einige Dutzend andere Besucher voran. Das Ziel? Der Blautopf, Quellort des schwäbischen Flüsschens Blau, das in die Donau entwässert und dessen glasklare Quellfluten nach durchschnittlich zwei Monaten Fließzeit im Schwarzen Meer zur Ruhe kommen.
Die Blaubeurener Karstquelle – immerhin die zweit wassereichste Deutschlands – ist in weniger als zehn Minuten umrundet und erscheint dem flüchtigen Auge wenig spektakulär. Erst wenn man die Infotafeln liest und das Gelesene nachfühlt, regt sich leises Staunen. Bis zu 33.000 Liter Wasser in der Sekunde können hier zu Tage treten. Und der mit 36.000 Jahren weltweit älteste Musik­instrumentenfund – eine Flöte aus Schwanenknochen – verweist auf die vorgeschichtliche Bedeutung der Region.
Einzigartig ist die Stimmung des Ortes. Das tiefe Grünblau der Quelle. Die vom unsichtbaren Wasserstrom meterlang wogenden Pflanzengirlanden. Der steil aufragende Rahmen aus Dunkelwald und Kalkfels. Die wie von einem Idyll-Maler perfekt positionierte Hammermühle mit dem uralten Schaufelrad. In einsameren Stunden umgibt den Blautopf wohl heute noch der gleiche Zauber, wie zu der Zeit, als Eduard Mörike die «Historie von der Schönen Lau» zu Papier brachte.

Das Mädchen in den Büschen

Szenenwechsel. Knapp zweihundert Kilometer entfernt und fast ein halbes Menschenleben zurück in der Vergangenheit ist von Zauber und Idylle nichts zu sehen und zu spüren. Eine Trabanten­siedlung am Stadtrand von München, eine Gruppe von Allerwelts­sträuchern zwischen Rasen, Bodendeckern und Beton, die Blätter vom Staub des Sommers fahl, der Boden krustig hart. Nein, Idyllen sehen anders aus und mit Idylle hat auch das Mädchen, das dort im Schutz der Sträucher verborgen hockt, nichts im Sinn. Vielleicht muss man ein Naturbild bemühen. Denn so, wie die Seidenraupe unter allen Umständen, selbst in Gefangenschaft, unbeirrbar Seiden­fäden spinnt, antwortet auch das Mädchen in den Büschen seiner glanzlosen Welt auf die einzige ihm wesensgemäße Art: mit präziser Phantasie. Spinnt den Goldfaden einer Welt hinter der Oberfläche des Alltäglichen, ahnt die Anwesenheit des kleinen Volkes und erlebt noch die Ödnis eines Forsythiengebüschs als veritable Zwergenburg. Eine Träumerin? Wenn, dann eine, die auch von der handfesten Welt und ihren Wesen ergriffen wird: «Ich habe immer gemalt und gezeichnet und mit zwölf mein erstes Gräser­bestimmungsbuch angefertigt – alles aus dem großen Bedürfnis, in den Zauber der wirklichen Welt einzutauchen.»
Das ist mal ein Wort! Gesagt in der Rückschau auf die Wurzeln ihrer großen Begabung von Daniela Drescher, einer der farbmächtigsten Bilderbuchautorinnen der Gegenwart. Ihr galt die Reise nach Blaubeuren. Mit Blick auf die Magie ihrer Elfen-, Zwergen- und Zauberreiche hat der Reporter die Blautopfatmosphäre in sich aufgenommen und – allzu vorschnell – als eine wichtige Quelle der Inspiration vorausgesetzt. Doch im Gespräch auf der Neubauterrasse der Blaubeurener Wahlheimat lacht die Künstlerin das Klischee vom Tisch. Stattdessen werden, während sie ihre Erinnerungsbilder ausgräbt, ganz andere, stärkere Kräfte erkennbar: Widerstandskräfte!

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

«Meine Kindheit war durchaus behütet, aber nicht unbeschwert. In der Schule fühlte ich mich unverstanden und einsam. Aber darin lag auch ein Reiz, eine schöne Schwermut und das Gefühl, zu Un­recht verkannt zu sein. Am Ende ist das Äußere sekundär, denn es kann mit inneren Bildern gefüllt werden und ein starker Antrieb sein, sich auf die Suche nach dem Eigenen zu begeben.»
Tatsächlich führt der Weg des «Mädchens aus den Büschen» in die Weite und Tiefe. Während sie einerseits, mit Zeichenblock und Stiften ausgerüstet auf dem Rad die Feldflur der Aubinger Lohe erkundet – «das waren Glücksmomente, wenn ich mit Ge­lungenem heimkam» –, versucht sie sich künstlerisch an sämt­-lichen erreichbaren Materialien und Techniken. Und bleibt schon als Teenager nicht im Ungefähren stehen: «Manchmal spürte ich unglaubliche Kräfte in mir und den Wunsch mit meiner Arbeit sichtbar zu werden. Mit 15 habe ich Postkarten drucken lassen, schwarz-weiß gezeichnet und dann handkoloriert. Damit bin ich in die Läden gegangen, immer umtriebig, immer mit dem Gefühl, dass es in diese Richtung gehen muss.»
Daniela Drescher spricht leise, zögernd und verrät mit jeder Silbe, dass die eitle Selbsterzählung mancher Künstler ihre Sache nicht ist. Und doch – die Person, die sich allmählich aus den hartnäckig herausgefragten Erinnerungen abzuzeichnen beginnt, ist so ziemlich das Gegenteil einer schüchternen, von Selbstzweifeln geplagten jungen Frau. Was an ihrem Willen zur Unabhängigkeit liegt – die erste eigene Wohnung, finanziert durch eigene, nicht immer tief befriedigende Arbeit. Und an dem beinahe unheimlichen Schaffens­drang, der nach immer neuem künstlerischen Ausdruck sucht, um die Naturbegegnungen zu bannen: «Ich liebte Bestimmungs­bücher! Es ging um den Akt des Entdeckens. Um neue Universen. Sich ganz hinzugeben. Wie blüht diese Pflanze wirklich? Hingucken, zeichnen, selbst das Einfachste. Wie ein Studium, was man für sich betreibt, was man in der Schule sehnlichst erwartet. Und wenn es nicht kommt, muss man sich auf den Weg machen. Im Rückblick muss ich feststellen, dass ich ein glückliches Naturell mitgebracht habe. Eine Art beherzte Beharrlichkeit. Denn Talent alleine nützt wenig. Man muss dranbleiben. Sonst ist man ganz schnell weg.»
Und wieder ein großer Gedanke: «Man sieht sich und seine Bemühungen immer zwei Mal! Man veranlagt etwas, bereitet hier etwas vor, stößt dort etwas an. Und irgendwann kommt es wieder. Aber – wenn man es nicht tut, ist es nicht getan!»

Zuflüsse

Während der Reporter dem Faden des biografischen Berichts folgt, drängt sich mehr und mehr das Bild der Karstquelle auf: Kontinuierliches Einsickern, allmähliches Sammeln, unsichtbares Zusammen­fließen und machtvolles Verströmen. In etwa so zeigt sich auch die Geschichte der Künstlerin. Jahrelang nimmt Daniela Drescher (Natur-)Bild um Bild in sich auf, probiert Techniken und Materialien. Weitet und vertieft ihren Lebenshorizont – arbeitet im Reformhaus, als Babysitterin in der Schweiz, in der SOS-Dorfgemeinschaft Hohenrodt. Kommt dabei immer wieder mit den Ideen der Anthroposophie in Berührung, mit neuen Kunstformen und Farbtheorien. Wesentlich wird schließlich Blaubeuren und die dort ansässige Kunstherapeutische Schule. Wesentlich auch die Begegnung mit dem Kommilitonen und späteren Dozenten Jens Drescher – ihrem Mann!
Die Blaubeurener Studienjahre werden zu einer Art Farbinitiation. «Farbe erleben, erlebbar zu machen, Farben zueinanderführen, Farben wie einen Teppich verweben. Was war das für ein Gedulds-spiel, ich bin fast wahnsinnig geworden, während ich auf das Trocknen der Farbe gewartet habe. Aber ich arbeite auch noch heute so!»
Erneut klingt auch das Unabhängigkeitsmotiv an, denn die Dreschers wagen die Selbstständigkeit: in Schwabing, in Blau­beuren und schließlich in Ulm – zuerst als Kunsttherapeuten, später mit dem Angebot einer berufsbegleitenden Ausbildung («Kunst und Kommunikation»). Jens Drescher: «Wir sind immer wieder auf den Bauch gefallen. Konnten die Ateliermiete nicht mehr zahlen. Und wussten doch nach jedem Versuch ein bisschen besser, ein bisschen pragmatischer, wie es gehen kann.» Und wie man eine sechsköpfige Familie damit durchbringen kann, wussten sie auch. Während Jens Drescher für das «Kerngeschäft» verantwortlich bleibt, arbeitet seine Frau in den «Außenbezirken», malt mit alten Menschen und vor allem mit Kindern. «Es war eine präventive Arbeit. Ich habe die Kinder zu sinnlichen Festen eingeladen, zu freudevollem, konzentriertem Tun. Über die Farbe er­reicht man in der Kinderseele Nuancen, die sonst im täglichen Leben keine Rolle spielen.» Zehn Jahre lang hat Daniela Drescher so gearbeitet, «wie es neben den eigenen vier Kindern eben ging».

Phantasie-Tunnel

Und dann fließt es! Kinderreime, ursprünglich geschaffen für ihre therapeutische Arbeit, sind der Kristallisationskeim für ein erstes Bilder­buch: Komm mit ins Elfenland. Wer den kleinen Band (und mit ihm alle Folgenden!) aufschlägt, weiß nicht, was ihn mehr erstaunt: Die Komposition der Doppelseiten? Nähe und Ferne, Vordergrund und Hintergrund? Die ausgemalten Details oder die freien, bloß farbigen, von innen erleuchteten «Phantasietunnel»? Die Eingangstore für des Lesers Phantasie. Die Intimität des Naturwissens? Das jeder Pflanze und jedem Tier gerecht wird und sei es in einem einzigen, feinen Pinselstrich. Oder die Farbe? Stimmungsvoll, ohne süßlich zu sein, nuancenreich, tief und – wie schon angedeutet – von einer magischen Innenlichtkraft. – Und es fließt noch immer. Seit einem Dezennium haben knapp zwei Dutzend Bücher die Blaubeurener Zauberbilderschmiede verlassen. Darin so wunderbare Figuren wie die Elfe Flirr, Morchel der kleine Troll, Merlind, die Zauberin und ihr Drache Igor, oder Pia die kleine Prinzessin. – Bücher, geschöpft aus der «Sehnsuchtssituation der Kindheit». Bücher, die Lust auf Welt und Natur machen, Ermutigungsbücher, Wegweiser zu den Dingen und Wesen, die immer da sind, und immer aufs neue sichtbar gemacht werden müssen. Zu viel Pathos für einen Schlusssatz? Dann geben wir der Künstlerin das letzte Wort: «Ich lebe ganz in meiner Arbeit – damit ist eigentlich alles gesagt.»