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Janni Howker

Der Dachs auf dem Hausboot

Nr 167 | November 2013

gelesen von Simone Lambert

«Sogar in der Alfred Street roch der Oktober nach Gartenfeuern. Unten am Kanal knisterten die gelben Blätter der großen Kastanien und flackerten wie brennendes Zeitungspapier.»
Mit diesem atmosphärischen Bild beginnt die erste der fünf Er­zählungen von Janni Howker. Helen, deren Familie noch immer über ihren tödlich verunglückten Bruder Peter trauert, lernt die alte Miss Brady kennen, die auf einem Hausboot wohnt. Die herrische alte Dame macht sie neugierig, als diese sie um einen Eimer Erde und Würmer bittet: als Futter für einen jungen Dachs, den sie vor dem Ertrinken gerettet hatte. Das wilde Tier verwüstet nach und nach die Kajüte, verbreitet Gestank und isst unappetitliche Sachen. Nachdem Helen eines Abends ihren Eltern den Dachs zeigt, findet ihr Vater aus der Starre seiner Trauer heraus.
Ein wildes Tier in seiner ungebändigten Kraft ruft das Ani­malische, die Quelle des Lebendigen in uns wach. Das ist eine unwiderstehliche Erfahrung. Der Dachs auf dem Hausboot lässt Helen er­kennen: «Dad hatte nie erfahren, dass Peter die Alfred Street mochte, dass alle seine Kumpels hier wohnten, dass er es hasste, der Junge vom Gymnasium zu sein. Wenn er nicht gestorben wäre, dachte Helen, … wäre er geblieben. Ich bin diejenige, die aus der Alfred Street weggehen wird – und ich glaube, Dad hat das die ganze Zeit über gewusst. Es war wie eine strahlende Stille in ihr. Die Wahrheit.»
Jugendliche auf der Schwelle zum Erwachsensein begegnen alten Menschen, die im Laufe ihres Lebens zum Außenseiter geworden sind. Ihnen ist die Gesellschaft nicht entgegengekommen. Ihr Leben spiegelt die getrennte oder sozial isolierte Situation der Heran­wachsenden. Aber in Janni Howkers Geschichten verändern sich die Kräfteverhältnisse, ohne dass einer den Sieg davonträgt.
Während sein Vater im Gefängnis sitzt und seine Mutter im Krankenhaus liegt, ist Steven bei Verwandten untergebracht worden. Der alte Jakey, ein Fischer, ist seine Zuflucht. Steven wird eifer­süchtig, als ein zweiter Junge, Marret, auftaucht. Marret ist im Gegensatz zu Steven praktisch und geschickt. Als es für Jakey ans Ende geht, entwickelt sich ein Gleichgewicht der Kräfte, in dem Steven sich findet. Er ist es, dessen Worte Jakeys Tod in eine Geschichte fassen und so erträglich machen. Beide Jungs holen Jakeys Habseligkeiten aus seiner Unterkunft, platzieren sie im zurück­gebliebenen Beiboot und schieben es gemeinsam in die Strömung, Jakey hinterher.
Bereits 1984 veröffentlicht, sind diese Erzählungen noch immer aktuell, denn sie bilden einen Initiationsmoment ab. Nicht denkbar ohne Salingers Fänger im Roggen oder die Romane von Carson McCullers, verbindet sich hier jedoch der Schmerz der Jugend­lichen mit Zuversicht. Fünf Mal lässt die Autorin das Leben, das vor den Kindern liegt, in seiner zeitlichen Spanne und inneren Spannung aufblitzen. Fünf Mal finden Jugendliche bei einem fremden Erwachsenen Respekt und Verständnis für den, der sie werden wollen. Und fünf Mal sind es Naturmotive von katalytischer Kraft und Schönheit, die die Geschichten tragen und prägen. Janni Howker erklärt ihre Protagonisten nicht, sie geht nicht psychologisch vor. Fragment für Fragment ihrer präzise geschilderten Wahrnehmungen, jedes in sich plausibel und realistisch, verdichtet sie zu poetischer, tief berührender Literatur.


Fünf Geschichten über Jugendliche und das Entdecken der eigenen Stärken – alle in sich plausibel und realistisch, verdichtet zu poetischer, tief berührender Literatur.