Michael Gerasch

Natürliche Zeit – technische Zeit

Nr 168 | Dezember 2013

Durch Tag und Jahr erleben wir ganz unmittelbar, was «Zeit» ist.
Den Tag erleben wir stärker in den eigenen Zuständlichkeiten von Wachen und Schlafen, Ermüdung und Erfrischung: Morgen – Mittag – Abend – Nacht. Das Jahr hingegen im Blick auf die Welt um uns, in den Veränderungen der Natur in Pflanzen- und Tierwelt, in Wachstum, Reife, Ernte und Winterruhe: Frühling – Sommer – Herbst – Winter. Der geschulte Blick sagte dem Kundigen, dem mit der Natur Verbundenen (und das war in vormoderner Zeit noch die überwiegende Mehrheit der Menschen), wann es Zeit war zur Aussaat und Ernte. Die Tageszeiten las man am Sonnenstand ab, eine Uhr in jedem Hause oder gar an jedem Arm gab es in früheren Zeiten nicht – sie war nicht notwendig. Nur die Stunde des sonn­täglichen Gottesdienstes sowie die Tage der großen Feste im Jahr waren nicht aus der Natur ablesbar und wurden durch Kirchturm­uhr und Kirchenglocke angezeigt.
Jahr und Tag als die Grundrhythmen unseres Zeiterlebens erweitern sich ins Große, wenn wir den Lebenslauf und seine Gesetze ins Auge fassen: Kindheit – Jugend – Lebensmitte – Alter. Und ins Kleine in den Qualitäten der Stunden und ihrer Teile bis hinunter zum eigenen Atemzug und Herzschlag. Zwischen Herzschlag und Menschenleben ist alles eingeschlossen, was uns als Er­leben der Zeit unmittelbar zugänglich ist.
Wir können diese Art von Zeit «natürliche Zeit» nennen. Sie ist gekennzeichnet durch einen überaus feinen rhythmischen Atem. So ist beispielsweise die genaue Tageslänge, genommen von einem Sonnenhöchststand im Süden zum nächsten, im Verlauf des Jahres durchaus nicht immer gleich: Vielmehr gibt es eine leise Ver­zögerung um die Sonnenwendzeiten im Sommer und im Winter und ein leises Rascherwerden zur Zeit der Tagundnachtgleichen. Zudem tritt der wahre Mittag früher oder später ein, je nachdem, ob ein Ort weiter östlich oder westlich liegt. Jeder Ort hat also seine eigene «wahre Ortszeit». Die Zeitspanne zwischen Sonnenauf- und -untergang, also die natürliche Tageslänge, ist hingegen im Sommer umso größer, im Winter umso kleiner, je weiter nördlich ein Ort liegt (Letzteres gilt für die gemäßigten Breiten auf der Nord­halbkugel der Erde) – sodass also wirklich jeder Ort auf der Erde seine eigene Zeit hat.

Es ist nicht verwunderlich, dass mit der zunehmenden Möglichkeit der Menschen, sich schnell über größere Entfernungen hinwegzubewegen, Schwierigkeiten auftauchten. Bekanntlich gab der aufkommende Eisenbahnverkehr den Anstoß, mit dem Zeitwesen anders umzugehen: Uhren regelten nun den Fahrplan, aber die Uhren im Zug mussten an jedem Bahnhof korrigiert werden, und zwar waren sie bei Reisen in West-Ost-Richtung alle 18 km um eine Minute vor-, in Ost-West-Richtung entsprechend zurückzustellen. Das scheint nicht viel zu sein, aber innerhalb Deutschlands, etwa zwischen Görlitz und Aachen, beträgt der Zeitunterschied bereits 36 Minuten. Dieses «Zeit-Chaos im Bahnwesen» führte dazu, dass man von der gleitenden Zeitverschiebung, die eine Folge des Sonnenlaufs ist, abging und größere Zeitzonen einführte, innerhalb derer alle Uhren die gleiche Zeit anzeigten. Am Übergang von einer Zeitzone zur nächsten beträgt der Zeitsprung dann jeweils eine ganze Stunde. Dadurch war der Beginn einer Entwicklung gegeben, die sich von der natürlichen Zeit immer mehr entfernte und zu dem führte, was unser Leben heute von Grund auf bestimmt und was man «technische Zeit» nennen kann.
Die technische Zeit kennt keinen lebendigen Rhythmus. Ihr Ideal ist die fortlaufende Aufeinanderfolge stets genau gleicher Vorgänge. Sie ist ihrem Wesen nach Takt und damit dem Zeitalter der Maschine vollkommen angemessen. Eine zeitliche Schwankung in den Abläufen – wie beim wahren Sonnentag im Jahreslauf – ist bei jeder Maschine das Anzeichen eines Defektes, der schließlich zum Ausfall bzw. zu ihrer Zerstörung führt. In der Wirklichkeit aber, d.h. in den Konstellationen von Erde und Sonne, aber auch von Mond und allen Planeten, kommen niemals exakte Wiederholungen vor. Denn die Umlaufszeiten lassen sich in keinem Fall in ganzzahligen Verhältnissen angeben.
Ein Bereich unserer Zeitenordnung aber hat überraschenderweise dem Bestreben zur Ver­taktung bis heute widerstanden: der Kalender mit seinen unterschiedlichen Monatslängen, mit der von Monat zu Monat und von Jahr zu Jahr wechselnden Anzahl arbeitsfreier Tage und weiteren «un­logischen» Unregelmäßigkeiten. Eine besondere Aufmerksamkeit hat in diesem Zu­sammen­hang der Bestimmung des Osterdatums zu gelten, die nach einer im 4. Jahrhundert festgesetzten und bis heute gültigen Regel aus der Konstellation von Sonne, Mond und Erde erfolgt: Ostern wird an dem Sonntag gefeiert, der auf den ersten Vollmond nach der Frühlings-Tagundnachtgleiche folgt. Dieses Datum wird nach einem zyklischen Verfahren ermittelt, stimmt aber in fast allen Jahren mit den tatsächlichen astronomischen Verhältnissen überein. Das Datum des Osterfestes – und damit auch das der nachfolgenden Feste Himmelfahrt und Pfingsten – kann durch diese «am Himmel abgelesenen» Tat­sachen in einem beträchtlichen Zeitraum von 35 Tagen schwanken. Beinahe zwangsläufig führten diese für das praktische Leben zweifellos unbequemen Verhältnisse in der zweiten Hälfte des vorigen Jahr­hunderts zum Ruf nach einer Kalenderreform mit folgendem Plan: Vier gleichlangen, jeweils mit einem Sonntag beginnenden Quartalen mit Monatslängen von 31-30-30 Tagen sollte ein «Worldholiday» ohne Wochentagsnamen folgen (in Schaltjahren ein weiterer in der Jahresmitte). Ferner sollte Ostern ein für alle Mal am 8. April sein. Dadurch wäre zum einen der Rhythmus der Siebentagewoche zum ersten Mal seit Jahrtausenden unterbrochen, zum andern würde das Osterfest von seinem kosmischen Bezug abgetrennt.
Wäre denn das alles so schlimm? Nun haben wohl die meisten Menschen nichts dagegen, dass ihr Geburtstag immer wieder auf einen anderen Wochentag fällt, finden es sogar schön und abwechslungsreich. Auch dass an Ostern manchmal noch Schnee liegt und dann wieder alles schon in voller Blüte steht, wird als lebendig empfunden. Auf die Dauer wird aber ein solches gefühlsmäßiges Einver­standensein mit dem geltenden Kalender nicht genügen. Bisher hat zwar die Uneinigkeit von Völkern und Religionen die Kalenderreform verhindert, aber es wird mit Sicherheit einen neuen Anlauf geben. Dann wird es darauf ankommen, dass es genügend Menschen gibt, denen diese Fragen nicht gleichgültig sind. Zeiten und Rhythmen haben ihren Ursprung im Kosmos, und sie gliedern gleichzeitig das Leben der Menschen auf Erden. Diesen Zusammenhang bewusst als etwas unserem Leben Heilsames zu pflegen und nicht aus «praktischen», d.h. wirtschaftlichen Erwägungen zu zerstören, bleibt Aufgabe des heutigen Zeitgenossen.