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Dan Lindholm

Schiffbruch am Weihnachtsabend

Nr 168 | Dezember 2013

Im Inselmeer vor der schwedischen Westküste liegt eine kleine Insel, «Kohlkopf» genannt. Der Name rührt von der runden Kuppe, die sich aus dem Meer erhebt. Unten, dicht am Wasser, liegt das alte Wohnhaus. Heute dient es nur als Ferienhaus, doch im vorigen Jahrhundert lebte hier eine Fischerfamilie, Mann und Frau mit einer großen Kinderschar. Und hier trug sich an einem Weihnachtsabend ein Geschehnis zu, so unglaublich, dass es bis zum heutigen Tag nicht in Vergessenheit geraten ist. Am Vormittag – dem Adam-und-Eva-Tag, wie er genannt wurde – war der Hausvater in der Stadt gewesen, um ein wenig für das anstehende Fest einzu­kaufen. Als er heimwärts segelte, hatte er den Wind ­gegen sich. Die Wolkendecke hing tief herab über die See. In der Luft lag etwas, das er nur allzu gut ­kannte – als ob sich eine geballte Faust hinter den Wolken verbarg. Der Fischer kannte jedoch jedes Riff unter Wasser, jeden ver­borgenen Felsen, und so hatte er keine Schwierigkeit, sich durch das tückische Gewässer hindurchzu­manövrieren.
Nach und nach hatte sich der Wind zu einer steifen Kühle gesteigert. Und während die Leute auf «Kohlkopf» alles für den Heiligen Abend vorbereiteten, ­wurde es ein richtiger Sturm.
«Gott behüte alle, die heute Nacht auf hoher See sind», sagte die Hausfrau. Bei Weststurm und flutender See gingen die Wellen bis an die Grundmauer des Hauses. Vielleicht war nicht einmal der Sturm das Schlimmste, sondern der Schnee, der immer dichter trieb. Bei schlechtem Wetter pflegten sie eine primitive Laterne oben auf der runden Kuppe anzubringen. Doch in dieser Nacht würde das wenig nützen, denn bei dem Schneegestöber verlor sich das Licht schon auf wenige Schiffslängen.
Viele Worte wurden nicht gesprochen. Vom kleinsten Kind bis zum Hausvater waren sie alle im großen Bottich gewesen. Jetzt saßen sie hübsch gewaschen um den gedeckten Tisch. Brot war aufge­schnitten, auf dem Herd stand der dampfende Kessel. Draußen aber ­rüttelte der Sturm an Wänden und Dach, während die Wogen bis an die Grundmauer des Hauses schlugen. Vor dem Hausvater lag die Heilige Schrift aufge­schlagen. Soeben war das Gebet gesprochen – da geschah es! Mit einem ohrenbetäubenden Krach schlug das Bugspriet eines Schiffes durch das Fenster!
Im Nu war der Raum in ein Durcheinander von umgeworfenen Stühlen und erschrockenen Menschen verwandelt. Nur der Hausvater verstand sofort, was geschehen war: hinaus in den Sturm mit Laternen und Bootshaken, er und die ältesten Söhne! Schreie und abgebrochene Kommandoworte waren durch das Getöse der Brandung zu hören. Es krachten der Kiel und die Spanten, das Schiff gab nach und krängte. Ein Seil kam durch die Luft geflogen, wurde von einem der Jungen aufgefangen. Schweres Tau folgte und wurde befestigt. Einer nach dem andern konnten die Seeleute sich retten, während das Schiff an den Felsen zerschlug. Der Steuermann war angebunden gewesen, damit er wegen des starken Seeganges das Steuer nicht verrückte, den musste man erst losschneiden. Als Letzter kam der ­Kapitän, damit waren alle geborgen.
Es war ein englisches Schiff, und Englisch verstand niemand auf der kleinen Insel «Kohlkopf». Noch ­weniger verstanden die Schiff­brüchigen Schwedisch. Doch eine Sprache verstanden sie, die der Dankbarkeit. Das Fenster wurde, soweit möglich, dicht gemacht. Und in dem bescheidenen kleinen Haus wurde ein ­unvergessliches Weihnachtsfest begangen. Wieder einmal bewahrheitete sich das alte Wort: Wo es offene Herzen gibt, da gibt es auch ein offenes Haus. Sogar zu essen gab es für alle genügend. Das sei allerdings auch ein Wunder gewesen, meinte die Hausfrau, wenn sie später die Geschichte erzählte. Und während draußen der Sturm und das Meer tobten, wurden drinnen schwedische und englische Weihnachts­lieder gesungen. Hoch über den Wolken aber hatte sich die geballte Faust gelöst. Über die Erde breiteten sich segnende Hände.