Ralf Lilienthal

Bis an die Grenzen – und darüber hinaus

Nr 170 | Februar 2014

Der Mignon-Senior-Circus

Kommende künstlerische Ereignisse werfen ihre Schatten voraus – vor allem, wenn der zugehörige Countdown bereits nach Minuten gezählt werden muss. Hier und jetzt jedenfalls, in den Schmink- und Umkleideräumen der Mignon-Circusschule, ist es so weit, denn in weniger als einer Stunde kulminiert das monatelange Einüben, Choreographieren, Zusammenspielen und Ausfeilen des Pro­gramms «Liebe, Triebe, Seitenhiebe» im Rund der Manege zur ersten von zwei anderthalbstündigen Aufführungen.
Es ist die bekannte Unruhe der darstellenden Künstler, Lampen­fieber genannt, das sich in fahrigen Gesten, verkniffener Konzen­tration, in Routinen und Ritualen niederschlägt und, von weitem spürbar, wie eine Wolke über den Akteuren schwebt. Näher dran wird der Beobachter dann stutzig. Denn hier sind weder die Mignon-Circus-Kinder versammelt noch auch die Profis des von den Mignons alljährlich ausgelobten SOLyCIRCO-Wettbewerbs. Stattdessen sitzen, stehen und gehen da … «Senioren»? Was sicherlich der «politisch korrekte» Ausdruck ist, eigentlich aber eine Begriffsretusche der Realität, durch die etwas sehr Gediegenes einfach zugekleistert wird – das Alter! Denn die da mehr oder weniger nervös auf das große Finale zuwarten, sind schlicht und unverkennbar alte Menschen, auch wenn Kostüm und Schminke bereits ihr verwandelndes Werk getan haben. Alte, verlangsamte, manchmal gebeugte, manchmal steife, manchmal plumpe, aber nie gebrechliche Körper. Gewordene, ausdrucksstarke Gesichter, «gelebtes Leben»‚ wie der Mignon-Gründer Martin Kliewer das später nennen wird.
«Und die bestreiten eine ganze Zirkusvorstellung?» Ja, auch solche Skepsis ist erlaubt, denn sie schärft die Sinne und klärt die Er­wartungen angesichts der gleich beginnenden Show. Wer werden wir, das verehrte Publikum, dann sein? Höfliche Applaudierer, voll wohlwollender Anerkennung für eine Leistung unter Handicap? Peinlich Berührte? Statisten in einem «sozialtherapeutischen» Pro­zess? Oder ist da doch Raum für mehr? Für Unerwartetes?
Auf jeden Fall ist da ein Raum, der von einem veritablen Vierund­zwanzigmeter-Zirkuszelt umspannt wird. Dort sitzen wir dann, jung und alt, Knabberzeug und Softgetränke in den Händen, verwehte Zirkuserinnerungen im Herzen und warten. Strecken mit den ersten Klängen magischer Manegenmusik die Wirbelsäulen, recken die Hälse in Richtung Vorhang und lauschen wohlwollend den Worten eines Mannes in Frack und Zylinder, der in bester circensischer Tradition den Direktorentitel trägt und dessen An­sprache in der denkwürdigen Feststellung gipfelt: «Wer hätte gedacht, dass die 68er im Zirkus enden!?»

Und dann betreten die Artisten selbst das Rund. Artisten? Natürlich assoziiert der Zuschauer mit diesem Begriff jugendlich-athletische Körper, höchste Geschicklichkeit und Eleganz, Kraft und Ge­schmeidigkeit, auch wenn schon mehr als ein Clown, Dompteur und Zauberer den Rahmen dieses wahren Klischees erweitert oder gesprengt hat. Nein, die dort vorne auf dem flach gespannten Drahtseil balancieren, Pois schleudern, radeln, skaten und jonglieren, sind nach landläufiger Definition keine Artisten. Doch erhält nicht das Wort «Artist» seinen tieferen Glanz von der «Kunst» (lat. Artium), und scheidet nicht ebendiese – etwa bei der Akrobatik – die gelungene Zirkusnummer vom bloßen Sport?
Und tatsächlich, während der Zuschauerblick noch skeptisch über die Körperhaltung, Dynamik und Fingerfertigkeit der Über­sechzigjährigen wandert, wird die Zuschauerseele bereits von ganz anderen Elementen bestrickt. Immer aufs Neue von der pathetisch-willenbefeuernden Zirkusmusik – natürlich! Auch von der kunstvollen Kulisse. Dem Licht. Den Farben. Den Kostümen. Aber das ist kaum mehr als (notwendiges) Beiwerk. Viel wichtiger ist hier im Mignon-Senior-Circus das alles überwölbende Ganze, die erzählte Geschichte: «Liebe, Triebe, Seitenhiebe». Die Choreographie. Viel wichtiger ist das, was der Zirkusdirektor und seine Helfer aus dem «künstlerischen Rohmaterial» herausgearbeitet haben. Anrührend-poetische Momente. Selbstironischer Humor, nicht nur, wenn das «Hinfälligkeitsmonster» einer ganzen Generation, der Rollator, zum Turngerät einer im Zehnerpack vorgetragenen, dynamischen Nummer steht.
Und immer noch mehr Inniges: eine kleine Stelzenromanze, die nur deshalb funktioniert, weil dort vorne nicht auf alt geschminkte Artisten, sondern wirkliche alte, staksige Pantomimen Liebe und Leidenschaft darstellen, als ginge es um ihr Leben! Eine Nummer mit Diabolos, Bällen, Ringen und Keulen, die vor Lebens- und Spiellust nur so strotzt und selbst dann funktioniert, wenn zwischenzeitlich beinahe gar nichts funktioniert und sämtliche artistischen Spielgeräte Opfer der Schwerkraft werden. Eine Clownsnummer, mit Herr und Knecht und einem aufdringlichen Besen, in die gerade so viel wirkliches Leben hineingespielt wird, dass sich vor dem seinerseits lebenserfahrenen Zuschauer die Ab­gründe auftun, in die er selbst schon manches Mal blicken musste – nein: durfte!
Das alles ist unerwartet! Ist einfach schön und manchmal regelrecht begeisternd, insbesondere, wenn der Zuschauer mit Händen greifen kann, dass Rollen und Realcharaktere von der «Regie» so fein aufeinander abgestimmt wurden, dass die Manege augenblicksweise zu leuchten beginnt.

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Wie geht so was? Wie kriegt man mehr als ein Dutzend Sechzig- bis knapp Neunzigjährige dazu, im Scheinwerferlicht der Manege Dinge zu tun, die nach allgemeinem Dafürhalten auf die andere Seite der Biographie gehören? Wie kommt man überhaupt auf die Idee, so etwas zu versuchen? Fragen, die der Reporter dem Mignon-Direktor Martin Kliewer stellt, dabei einen Gesprächsfaden aufgreifend, der vor knapp fünf Jahren beim Besuch des Sylter Inselcircus bereits angeknüpft wurde.
Vieles Sichtbare ist seitdem geschehen, was sich nicht zuletzt am heutigen Hamburger Hauptquartier der Mignons zeigt. Mit der als Industriellen-Landsitz gebauten und vielfach umgenutzten heutigen «Villa Mignon» kam, als Stand- und Spielbein, ein zugleich stabilisierendes und dynamisierendes Element in die Mignon-Zirkuswelt. Denn während der befestigte Zeltplatz und die angrenzende Zirkusschule dem Kurs- und Vorstellungsprogramm buchstäblich Raum und Planungssicherheit brachten, wurde die Villa selbst, mit Profiküche und Festsälen, zum Ausgangspunkt für weittragende Aktivitäten unter dem übergreifenden Motto «Genuss und Spektakel».

Dass die Mignons, allen voran der in der Atlantic-Küche groß gewordene Roman Kliewer, kochen können, hatten sie bereits im Sylter Circorante und als Caterer der Hamburger Trabrennbahn unter Beweis gestellt. Dass sie selbst vor größten Herausforderungen nicht zurückschrecken, zeigen ihre hochgelobten gastronomisch-organisatorischen Engagements unter anderem beim Wasserkunstmuseum Kaltehofe oder im preisgekrönten Hamburger Architekturjuwel Wälderhaus.
Und wie war das jetzt mit den Wurzeln des Senior-Circus? Die reichen in der Kliewer-Biographie weit zurück. «Meine Eltern leiteten eine Ausbildungsstelle zur Altenpflege, sodass meine Begegnung mit diesem Thema geradezu unausweichlich war. Als ich mich dann später in der Heilpädagogik mit der Behandlung ganz kleiner Kinder befasst habe, ging es ganz wesentlich um körperliche Stimulation und basale Sinnespflege. Und ich merkte: Hier berühren sich beide Lebensalter. Denn während das Kleinkind lernen muss, sich im eigenen Körper wohlzufühlen, um gut ‹einzusteigen›, darf der alternde Mensch nicht verlernen, sich wohlzufühlen, um dann gut ‹auszusteigen›.»
Der amerikanische Dokumentarfilm young@heart, über einen Punk­songs singenden Chor der Überfünfundsiebzigjährigen, wurde dann zum Katalysator und die Idee eines Senior-Circus zum brennenden Wunsch des Mignon­direktors. Heute geht man damit bereits ins sechste Jahr. Auf Sylt begonnen, in Hamburg fortgesetzt, hat sich die vielfache Wirksamkeit der Projektidee längst erwiesen.* Das Publikum mag den Senior-Circus. Die Medien sympathisieren mit ihm. Die jugendlichen Trainer arbeiten gerne mit den Alten. Und der lebenserfahrene Direktor ist angesichts der Leistungen seiner Schützlinge gelegentlich zu Tränen gerührt.

Und was sagen diese selbst? Hier ein gemischter Chor der Sylter und Hamburger Stimmen: «Entscheidend ist der Mut zum Mut. Nicht immer gleich zu denken, das schaff ich sowieso nicht!» – «Meine Enkelin hat gesagt: Oma, geh’ da hin, du bist eigentlich verrückt genug dafür!» – «Ich habe mein Leben lang die tollsten Konzerte gegeben, aber immer im Korsett gelebt – ich wollte einmal etwas Verrücktes machen, was mir keiner zutraut!» – «Hier habe ich zum allerersten Mal gemerkt, was für ein gutes Gefühl die Aufmerksamkeit der anderen ist. Und ich muss nicht mal die Beste sein, den Scheinwerfer kriege ich sowieso!» – «Ich war mit Clowns immer seelisch verbunden. Der Clown kann eine andere Seite von mir sein, die ich zwar auch bin, aber sonst nie zeigen kann.» – «Man soll sein Leben so leben, wie man das gern möchte – nich’?» – «Im Alter guckt man tendenziell nach hinten, hier, im Zirkus, guckst du nach vorne: Was könnte ich noch lernen? Wie wird die nächste Aufführung?» – «Ich habe bereits einen Schlaganfall und einen Infarkt hinter mir – also Zirkusakrobatik macht eindeutig mehr Spaß als koronale Herz­gymnastik!» – «Gestern sagte Imke (die Frau des Direktors und eine tragende Säule des ganzen Mignon-Projekts) zu mir: Da kommt Jutta, die Rampensau! Dabei war ich eigentlich immer sehr introvertiert. Aber ich bin bis an meine Grenzen gegangen … und darüber hinaus!»

Ein Schlusswort? Das ist Direktorensache: «Im Alter habe ich die Riesenchance, über mich selber hinauszuwachsen, die Grenzen einzureißen und zu sagen: So, jetzt bin ich alt und unabhängig und kann endlich einmal etwas verwirklichen, ganz gleich, ob andere das gut finden oder nicht, ob sie mich für verrückt erachten oder mich peinlich finden – als Clown, am Trapez oder im Löwenkostüm. Dazu möchte ich verhelfen!»