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Frances Hardinge

Wunsch – Traum – Fluch

Nr 171 | März 2014

gelesen von Simone Lambert

Sich das nötige Kleingeld für die Heimfahrt mit dem Überlandbus aus dem Wunschbrunnen in Magwhite zu fischen, ist zunächst nur ein morbider Streich, aber als die «Göttin der Quelle» von Josh, Ryan und Chelle die Erfüllung der an den Münzen hängenden Wünsche fordert, entwickeln sich die Ereignisse lawinenartig. Wie – das erzählt Frances Hardinge in diesem großartigen Roman über Wünsche, die sich zu Chimären auswachsen.
Josh, Ryan und Chelle sind ein Trio von Außenseitern. Ryan – klug, sensitiv und schüchtern – ist die Figur, durch die der per­sonale Erzähler die Geschichte mitteilt. Er ist der Einzige der Drei, der Kontakt zu der «Wasserfrau» aufnehmen kann. Warzen auf seinen Händen entwickeln sich zu bewimperten Augen und machen ihn hellsichtig. Josh, Anführer und Held der drei Freunde, kann nun elektromagnetische Ströme beeinflussen, Chelle wird zum Sprachrohr fremder Wünsche – ohne die Worte, die aus ihrem Mund sprudeln, kontrollieren zu können. Die Kinder folgen
verunsichert und verängstigt dem Willen der Wasserfrau, um ihre auffälligen Gaben wieder loszuwerden, sobald sie ihre «Schulden» abgearbeitet haben.
Was zunächst wie ein «Selbstlosigkeitstraining» erscheint, eine «Gut­menschenaufgabe», ein bisschen spooky und ein bisschen witzig, wächst sich zu einer Bedrohung für die Kinder aus. Es sind die Wünsche der Erwachsenen, die sie zu erfüllen versuchen – daran müssen sie scheitern. Als Chelle die Mordgedanken eines Wünschers aufschnappt, begreift Ryan das Ausmaß der Gefahr. Josh aber identifiziert sich mit der Rächerrolle; er, der ungeliebte Adoptivsohn vermögender Eltern, liebt die neue Macht, die ihm die Quellenfrau verleiht – und sieht sich als ausführendes Organ einer höheren Gerechtigkeit. Es kommt zur Auseinandersetzung, sogar zur Prügelei, und zur Spaltung des Trios. Ryan und Chelle wollen Josh aufhalten, und dann schaltet sich die Göttin der Quelle ein und schickt sintflutartigen Regen. Es beginnt ein Finale, das einer Achterbahnfahrt gleicht …
Frances Hardinge hat den Wunschbrunnen in der prosaischen Umgebung eines Supermarktes angesiedelt; er ist überdeckelt von einem Betonring mit eingelassenem Gitter. Später werden die Protagonisten von Einkaufswagen observiert, die zudem ihre Verfolgung aufnehmen – was für eine herrlich spinnerte Idee, die Dienstbarkeit so alltäglicher Gegenstände in eigenwillige, unheimliche Bewegungen zu verwandeln.
Hardinge ist von einer schier unerschöpflichen Erfindungsgabe: Ihre Geschichte ist voll von überraschenden Wendungen, ihre Sprache reich an treffenden Formulierungen und frischen Metaphern. Aber auch die Vielschichtigkeit in der Erzählung, die Komplexität der Themen beeindrucken und fesseln den Leser. Hardinge erzählt von der Demontage eines Helden. Und sie
verbindet die irrationalen, oft verzweifelten Anwandlungen der Erwachsenen mit einer tiefsinnigen Betrachtung des Charakters der Wünsche und ihrer Verwurzelung im Aberglauben – der
geradezu archaische Ritus geht in dieser Geschichte folgerichtig in Magie über. Reifes Handeln aber, wie es Ryans Eltern zu seiner unendlichen Erleichterung vorleben, beruht auf Nach­denken, Entschlusskraft und Engagement. Alexandra Ernst hat diesen einfühlsamen, humorvollen und originellen Fantasyroman kongenial übersetzt. Außergewöhnlich!

Dieser Fantasyroman ist voll überraschender Wendungen und frischer Metaphern – die Komplexität der Themen beeindruckt und fesseln den Leser.