Maria A. Kafitz

Herbst ist auch im Frühling schön

Nr 172 | April 2014

Sie steht vor ihm – glücklich und verzaubert. Sie dreht sich. Streckt den Fuß in die Höhe. Läuft zum Spiegel und zurück und fragt mit flatternder Stimme: «Sind die nicht wunderschön?» – «Die sehen doch so aus wie die ganzen anderen da!» Welche Frau hat diesen niederschmetternden Satz noch nicht gehört, wenn sie voll Freude dem Liebsten ihre neueste Schuherrungenschaft präsentierte!? «Wie die anderen? Du hast doch überhaupt keine Ahnung: Der Absatz ist viel schmaler und sie sind gut zwei Zentimeter flacher!
Und außerdem … Ach, vergiss es!» Eine solche Diskussion zu verlängern, gar Über­zeugungsarbeit leisten zu wollen, führt zu nichts. Meistens. Daher sollte Frau sich einfach freuen und dem Mann einen Detailblick für anderes zugestehen. Etwa für Taschen?
Achtung! Auch bei diesem zweiten, mit schier unendlichen Klischees besetzten Gegenstand im Leben einer Frau ist wohl eher Verlass auf eine gute Freundin, die Schwester oder einfach – sich selbst! Ja, es gibt Ausnahmen. Nochmals ja, es gibt sogar Männer mit einem feinen Sinn für Form- und Farbkombinationen zwischen Kleidung und Accessoires. Aber wenn wir nach einem ungeschönten Blick auf die Straßen unserer Städte ganz, ganz ehrlich sind, so bleiben sie zwar wohltuende, aber eben doch seltene Ausnahme. Leider. Dass es zumeist die Frauen an ihrer Seite sind, die ihnen ach so praktische Rucksäcke anlegen und sie in übermusterte Oberteile oder zweckmäßige Funktionshosen stecken, gegen die sie nicht aufbegehren, gehört wohl auf ewig zu den ungelösten Geheimnissen unserer Spezies.
«Alles Äußerlichkeiten» – werden nun manche empört rufen. Durchaus. Und doch ist die Freude an Schönheit, die Sehnsucht danach, zugleich eine innerliche Bereicherung und kann das Denken befeuern. Für manche ist das Suchen und Finden von schönen Formen und Farben zudem Beruf, gar Berufung geworden. Eine dieser «Form­ver­liebten» lebt und arbeitet in Berlin und lebt und arbeitet zugleich an diesem Frauen­traum: Monia Herbst ist Designerin, sie entwirft und fertigt in der eigenen kleinen Werkstatt Taschen und Accessoires.
«Glückliche» – werden nun manche neidvoll rufen. Durchaus. «Wir sind die Glücklichen», ergänze ich, denn so können wir in den Genuss der Kombination aus Kunst und Hand­werk, Formgefühl und Materialveredlung kommen, der die «Herbst-Kreationen» auszeichnet. Und ich kann mich doppelt glücklich schätzen, denn es wurde mir ein Traum erfüllt, den auch andere bekennende Neugierwesen sogleich verstehen: Ich erhielt Einblick. Einblick ins verborgene Geheimnis, das wohl in jeder Tasche schlummert – oder zumindest dort vermutet wird.

Einblick 1: Monia Ersatzleggins (man weiß ja nicht, ob man sich nicht umziehen will!), Stoffbeutel, Taschentücher, Nasenspray, Geldbeutel, loses Kleingeld, Kamm, Haargummis, Aspirin, Taschenspiegel, Kosmetiktäschchen, Fotoapparat, Smartphone, Adressbücher (will man schon lange mal zusammentragen), Visitenkartenetui, Schlüsselbund, eine immense Sammlung an Quittungen (ach, die liebe Buchhaltungslast Selbstständiger) und Notizzetteln, Kinderpflaster

Mit der Wende kam für die gebürtige Brandenburgerin Monia Herbst auch die berufliche Wende. Sie holte das zuvor abgebrochene Abitur nach und studierte an der HTW Berlin – nach dem «Ausbildungs­umweg» zur Optikerin, wo sie stets mehr an der Schaufenster­dekoration als an den Dioptrienwerten der Kunden interessiert war – endlich das, was sie schon als kleines Mädchen wollte: Modedesign.
Dass sie dann aber nicht wie ihr großes Idol Coco Chanel beim Designen von Couture landete, sondern ins Accessoirefach wechselte, «verdanken» wir den Models, die ihre Diplomarbeit zum Thema «Kleid und Tasche» präsentieren sollten. «Die waren so extrem zickig. Aber du musst mit denen ja ganz nah arbeiten – direkt am Körper. Schon da war mir klar, dass ich später auf jeden Fall Taschen und anderes machen will, aber erst mal keine Mode.» Schüchtern, etwas scheu war sie damals – und das in einer Branche, in der man vor Selbstbewusstsein strotzen sollte, um sich und seine Kreationen zu verkaufen.
Schüchtern, etwas scheu wirkt Monia Herbst im ersten Moment noch immer, wenn man ihr heute in ihrem Laden in der August­straße in Berlin Mitte zum ersten Mal begegnet. Und der Laden erscheint wie sie selbst: hell, aber nicht clean – klar, aber an sicher gewählten Stellen verspielt – unaufdringlich, aber in zentraler Shoppinglage. Begonnen hatte sie allerdings in einem kleinen Kellerraum in der Torstraße, in der sich zu dieser Zeit noch nicht die Szenecafés und hippen Boutiquen aneinanderreihten und der angrenzende Prenzlauer Berg noch nicht übersaniert und somit bezahlbar war. Etwas unheimlich war ihr die Kellerlage zwar, aber sie war ein Anfang und bot die Perspektive, von den eigenen Kreationen und Ideen selbstständig und selbstbestimmt leben zu können. Verkaufsfördernd war die Lage allerdings nicht gerade und so nutzte sie die erste sich bietende Gelegenheit, um vom Keller nach oben und damit ins Blickfeld der Laufkundschaft zu gelangen. Sehen und mehr noch Gesehenwerden ist wohl für alle Kreativen ein Überlebensimpuls.
Den aktuellen Laden in der Auguststraße entdeckte sie während eines Praktikums bei einem Täschner um die Ecke und zeigte dann viel Geduld und noch mehr Hartnäckigkeit. Irgendwann war er frei. Frei für sie und ihre liebevoll entworfenen und detaildurchdachten Taschen und Accessoires, die fast ausschließlich in der kleinen angrenzenden Werkstatt entstehen.
So klar und hell es vorn ist, so bunt und voll ist es hinten: Garnspulen und Schnittmuster, Lederrollen und Reißverschlüsse, Knöpfe und Nieten, Schneide- und Nähmaschine, Kaffeetassen und Süßigkeiten – und René.
René gehört nicht zum Werkstatt­inventar, sondern zum Laden und zum Leben von Monia Herbst: Der gebürtige Oldenburger ist Praktikant in Sachen Design, Lebenskünstler, Freund und Vater der gemeinsamen Tochter. Und René ist es gelungen, die Experi­mentierfreudigkeit in ihr wieder stärker zu kitzeln, denn er genießt das Gestalten und Versuchen und leidet wenig(er) am Scheitern und Verwerfen. «Er hat den Kitsch in den Laden gebracht», sagt sie lachend. «Wer kann das schon über einen Mann sagen!?»

Einblick 2: René Schlüsselbund, Mobiltelefon, Wasserflasche, Taschentücher, Tüte, Schals (Eigenkreationen, die er andernorts gezeigt hatte – sonst wäre nach der Tüte schon nichts mehr drin gewesen. Erstaunlich leer, so eine Männertasche ;-)

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Das Experimentieren mit Farben und Formen, mit Strukturen und Stilen ist immer auch eine Frage des Materials. Für Monia Herbst war schnell klar, dass für sie Leder der sinnlichste Werkstoff ist. Und ihr war genauso schnell klar, dass sie damit aber nicht verschwenderisch und unbedacht, sondern bewusst und achtsam arbeiten will. «Wie du mit einem Material umgehst, was du darüber denkst, das lebt und zeigt sich im fertigen Produkt.»
Achtsam sein, das heißt für sie natürlich auch, immer wieder die Frage zu stellen: Woher kommt das Leder und wie wurde es verarbeitet? «Ich bin klar für eine Kennzeichnungspflicht, wie sie bei Nahrungsmitteln auch sein sollte. Wenn ich Bio-Fleisch esse, dann kann ich mich über den Bauern informieren, wenn ich das will. Das sollte auch für alles gelten, was ich anziehe, auch für Taschen.» Neben den fast ausschließlich aus Europa kommenden Ledern von Händlern, mit denen sie schon lange und vertrauensvoll zusammenarbeitet, ist auch «Recycling» und «Vintage» für Monia Herbst ein wichtiges Thema, das sinnvoll und zugleich fantasieanregend ist. Was steckt, was versteckt sich an neuen Täschchen oder Schlüsselanhängern in alten Mänteln und Sesseln, in aufgekauften Resten oder Flohmarktfundstücken? «Auf der Straße findest du die besten Ideen. Überall ist was zu entdecken. Und in Berlin ist ja die ganze Welt unterwegs – zum Glück, denn ohne Touristen könnten wir Künstler und Kunsthandwerker hier gar nicht überleben.» So inspirierend die Straße für die Designerin ist, so verführerisch und zum Kauf inspirierend ist für andere das, was Monia Herbst bevorzugt daraus macht: Taschen!
«Für mich gehört eine Tasche zum Komplettoutfit einfach dazu. Wenn die Tasche nicht zum Rest passt, dann stimmt das ganze Bild nicht. Darum hab ich ziemlich viele davon, denn man weiß ja nie …», bekennt Nadine und sprengt mit ihrer geheim gehaltenen Anzahl sicher den Durchschnittswert von sieben Taschen pro Frau in Deutschland (Italienerinnen lächeln bei dieser Zahl übrigens nur milde und schauen auf ihre mindestens 20 heißgeliebten, natürlich unverwechselbaren Stücke in meist brauner Farbe). Nadine ist nicht nur Freundin und Model (auch für die Fotos dieser Geschichte) von Monia Herbst, sie kümmert sich zudem ums Marketing für andere kleine Modelabels, die im Schatten der Großen kaum eine Chance hätten. «Ich habe zwar selbst Modedesign studiert – aber meine Kreativität funktioniert besser im Verkaufen von Kreativen!»

Einblick 3: Nadine Haargummis und -klammern, Kamm, Notizblöcke, Stoffbeutel und faltbarer Stoffrucksack, Mütze und Handschuhe, Parfümpröbchen, einzelne Bonbons in Papier und ohne Papier, Taschenhaken (sehr praktisch, denn so kann man die Tasche an den Tisch hängen, statt sie auf den nicht immer sauberen Boden stellen zu müssen), Geldbeutel, Smartphone, Schlüsselbund, Fusselbürste, Schuhputztücher, Handcreme, Lippenstift, Schminktäschchen, Kugelschreiber, Adressbuch, Kaugummi, Regenschirm, Ersatzteil vom Motorradhelm (seit sechs Monaten will man in den Laden, um die fehlende Schraube zu besorgen!), Quittungen, Couponheftchen, noch mehr lose Bonbons

Ob nachvollziehbar oder ewig rätselhaft – Frau und Handtasche scheinen untrennbar miteinander verbunden. Und als vor ein paar Jahren die Chansonnière Camille von den Kritikern wegen ihrer Stimme und Musik gefeiert wurde, da stimmten viele Frauen wohl aus ganz anderen Gründen lächelnd ein in ihr Lied Le Sac des Filles («Die Handtaschen junger Frauen»), das mit folgenden Zeilen beginnt: «Es wurden zu viele Fragen gestellt: / Sein oder nicht sein? / Existiert Gott? / Aber um zu begreifen, wie die Welt funktioniert, / Müssten die Männer nur verstehen, / Was es alles in den Taschen junger Frauen gibt …»

Einblick 4: Maria Notiz- und Adressbuch, Monatsticket, Bündel an Visitenkarten, Geldbeutel, Schlüsselbund, Smartphone, Liebesbrief, zwei Kieselsteine, Buch (Julian Barnes, Unbefugtes Betreten), Murmel, Schuhputztücher, Nähzeug, Aspirin, Pflaster, Klebeband, Zettel mit Gedicht (Antonia Keinz: Alles!), Mäppchen, Lippenstift und -balsam, Kaugummi, Döschen mit Bonbons, Ersatzfeuerzeug, Regenschirm, Sonnenbrille, Taschenmesser