Titelbild Hochformat

Alex Epstein

Morgans Erwachen

Nr 172 | April 2014

gelesen von Simone Lambert

Die Artussage inspiriert noch heute zu immer neuen Aus­leuchtungen der vagen, von Auslassungen und Variationen geprägten Geschichte um Merlin und die Ritter der Tafel­runde. Alex Epstein holt Morgan, die Halbschwester von Artus, aus dem Legendennebel ins Licht einer Geschichte, die ihre Ent­wicklung zur Magierin nachempfinden will. Das Buch imaginiert sieben Jahre im Leben der Morgan, die Zeit von ihrem 11. bis zu ihrem 18. Lebensjahr.
Der Vater ermordet! Anna, Tochter von Gorlois, Herzog von Cornwall, und Ygraine, muss ohnmächtig mitansehen, wie sein Mörder Uther Pendragon ihre Mutter Ygraine zur Frau nimmt. Ygraine will ihre elfjährige Tochter schützen, als sie sie übers Meer ins Exil nach Irland schickt. Mit einem neuen Namen: Morgan – aus dem Meer geboren.
Die Elfjährige erreicht die Insel und sucht dort den Schutz einer königlichen Verwandten. Die Verhältnisse auf der Kelteninsel sind, anders als Morgan es aus dem von den Römern geprägten Britannien kennt, roh und unkultiviert. Schlachten sind hier ein mordlustiges Spektakel und nicht von strategischer Kriegsführung gesteuert. Bei einer solchen wird Morgan gefangen genommen und kommt als Sklavin in das Haus einer Heilerin. Sie lernt von ihr. «Eine Sklavin zu sein lehrte Morgan den Umgang mit der Stille, und die Stille hat ihre eigene Kraft. Sie konnte die Ströme spüren, die durch das Land flossen. Sie spürte die Feuerkräfte …, und sie fühlte, wie der Schleier zwischen dem Sichtbaren und dem Un­sicht­baren … dünner wurde.»
Morgan erlebt eine Verbundenheit mit den Kräften der Elemente. Der Erzähler deutet immer wieder an, dass sie Feenblut in sich trägt und stellt Verbindung her zu Mórrigan, der keltischen Muttergöttin und Kriegsgöttin.
Aber Morgan begegnet auch dem Christentum: Einen christlichen Missionar, der absolutes Vertrauen setzt in die sichtbare Welt mit ihrer unsichtbaren Ordnung und dabei scheinbar Wunder vollbringt, sieht sie als großen Zauberer an. Als er das Lied über eine Stille Nacht anstimmt, spürt sie, dass es sie berührt «… wie die Hand eines Kindes, und Morgan wusste, dass sie sich, mehr als nach allem anderen, nach diesem Frieden sehnte».
Morgan kann fliehen und findet Freiheit und Zuflucht in einem christlichen Dorf, bis die Bewohner von ihrem keltischen Lehns­herren verjagt werden. Hier, so nimmt sie es wahr, lockert sich ihre Verbindung zur Erde. Doch die Erdmagie ist ihre Kraftquelle.
Sie entscheidet sich gegen das Christentum. Und heiratet den keltischen Bruder einer christlichen Märtyrerin. Die leidenschaft­liche Ehe bleibt kinderlos, so entscheidet es Morgan. Sie wird zur Mutter von Conalls Kriegen und Schlachten und bringt ihm bei, was sie von ihrem Vater über Kriegsführung und den Sinn von Herrschaft gelernt hat. Um ihn schließlich mit fünfzig Männern zu verlassen und heimzukehren nach Britannien, Tintagel zu befreien und ihren Vater zu rächen. Doch sie kommt zu spät …
Epstein erzählt eine harte Geschichte über ein Leben, das außergewöhnliche Kraft aus dem Tod schöpft, aus Einsamkeit, Verlust und Lust. Er verbindet in der Gestalt der Morgan keltische Wurzeln
und christliche Opferbereitschaft; Morgan bereitet in dieser Interpretation gewissermaßen den spirituellen Wandel vor. Ein gewagtes Buch – nicht leicht zugänglich, aber faszinierend.


Eine Geschichte über ein Leben, das außergewöhnliche Kraft schöpft aus Einsamkeit, Verlust und Lust – keltische Wurzeln begegnen christlicher Opferbereitschaft.