Immer schon

Nr 173 | Mai 2014

«Ich war mir immer schon ein anderer», – je me suis toujours été un autre, sagte Romain Gary von sich. Der am 8. Mai 1914 in Vilnius, der heutigen Hauptstadt Litauens, geborene Russe jüdischer Herkunft Roman Kacew zog mit seiner alleinerziehenden Mutter Nina Owczinski 1928 nach Nizza. In Frankreich wuchs er also seit dem vierzehnten Lebensjahr auf, studierte später Jura in Aix-en-Provence und Paris, wurde Flieger und Widerstandskämpfer und Mitstreiter Générale de Gaulles und später Diplomat. Nach den Wünschen seiner ihn über alles liebenden Mutter hätte er mindestens ein Yehudi Menuhin, Jascha Heifetz oder Vaslav Nijinsky werden müssen. Aber er zeigte weder für Musik noch für Ballett irgendein Talent.
Dafür fing er früh an, ganze Schulhefte mit Gedichten und Geschichten vollzuschreiben. Das große Problem für Mutter und Sohn jedoch war, dass er keinen passenden Namen für einen berühmten Schriftsteller besaß. In seinem autobiografisch geprägten Roman (récit) La promesse de l’aube (Frühes Versprechen) beschreibt er in köstlich nüchterner, liebevoller Art sein Leben mit der Mutter und die verzweifelten Versuche, ein angemessenes, wohlklingendes Pseudonym zu finden. Größere literarische Werke sind später unter ganzen sechs verschiedenen Pseudonymen erschienen. So kam es auch, dass er als einziger Schriftsteller bisher zweimal den renommiertesten Literaturpreis Frankreichs, den Prix Goncourt, erhielt: 1956 für Les racines du ciel als Romain Gary und 1975 für La vie deviant soi als Émile Ajar!
Dem Protagonisten seines 1977 erschienenen Romans Clair de femme (Die Liebe einer Frau) Michel Folin, mit dem er sich laut eigenem Zeugnis am stärksten unter allen seinen erschaffenen Figuren identifi­zierte, legt Romain Gary die Worte in den Mund: «Alles, was ich verloren habe, ist mir ein Grund zum Leben» – Tout ce que j’ai perdu me donne une raison de vivre.
Da er vor dreiunddreißig Jahren am 2. Dezember 1980 in Paris sich das Leben nahm und in einer Mitteilung für die Presse verlautbaren ließ, er habe sich letztlich vollständig ausgesprochen – Je me suis enfin exprimé entièrement –, muss er wohl alles Verlorene wiedergefunden haben. Wir Lebenden sind vielleicht so glücklich, weil wir noch Suchende sind.

Von Herzen grüßt Sie, Ihr

Jean-Claude Lin