Titelbild Hochformat

Hedwig Sautter

Magie und Poesie in der Begegnung mit Kindern

Nr 175 | Juli 2014

Über zwanzig Jahre lang arbeitete Hedwig Sautter im Janusz-­Korczak-Institut, bis eine schwere Krankheit sie an den Rollstuhl fesselte und ihren Aktionsradius wie auch ihre körperlichen Kräfte stark einschränkte. Nicht nur als Kinder- und Jugendtherapeutin und Elternberaterin war sie eine zentrale Figur in unserem Team, sondern auch als Dozentin im Rahmen der Fortbildungen, die wir seit 1999 für Ausübende pädagogischer, therapeutischer und sozialpflegerischer Berufe anbieten.
Zu ihren großen Stärken gehörten ausführliche diagnostische Berichte, die sich stark unterschieden von dem, was heute gemeinhin auf diesem Gebiet fabriziert wird; Berichte, die durch sprachliche Sorgfalt und «Andacht zum Kleinen» (Rudolf Steiner) bestachen und an denen man lernen konnte, was der Unterschied zwischen einer respektvollen Charakterisierung und einem anmaßenden Werturteil ist; zwischen «Schatzsuche» und «Fehlerfahndung» (Eckhard Schiffer); zwischen dem würdigenden und dem auf Unzulänglichkeiten fixierten Blick.
In Hunderten sogenannter Fallbesprechungen erlebten wir, dass Hedwig ein großes Talent hat, den Bedeutungs­gehalt des unmittelbar Anschaulichen zu erfassen. Sie findet aber Bedeutung nicht durch Deutung, sondern hält sich an Goethes Satz: «Man suche nur nichts hinter den Phänomenen, sie sind selbst die Lehre.» James Hillman hat einmal gesagt, die heutige Psychologie habe den Sinn für Schönheit verloren. Für Hedwig – sie ist Diplom­psychologin – gilt das nicht. Ohne je in die Falle des Beschönigens zu tappen, vermag sie noch in den unscheinbarsten Lebensäußerungen der Kinder das Schöne zu entdecken – auch und gerade dann, wenn es irritierende, «regelwidrige» Lebensäußerungen sind. Auf die Magie und Poesie echter Begegnungsmomente kommt es ihr an.

Aus dem Vorwort von Henning Köhler


Sophie mit dem Hut

Sophie mit dem Hut
ist wie klein Irmchen,
wie klein Irmchen mit dem Schirmchen,
mit dem Schirmchen,
mit dem sie um die Ecke lauft
und ein Stückchen Sonne kauft.
Nur:
Sophie kriegt kein Stückchen Sonnenschein
und keinen gelben Honig,
sorgsam in Papier gewickelt.
Und dem Kaufmann streckt Sophie die Zunge raus.
Und der Kaufmann sagt,
Sophie sei ein ungezogenes Kind.
Und die Mutter seufzt.

Sophie mit dem Hut
sitzt da mit ihren Kellerfalten auf der Stirn
und knurrt.
Ohne Sonnenschein ist Sophie ein Hund,
der knurrt und beißt.
Die Leute glauben nur, es sei Sophie,
die ungezogene Sophie.

Sophie mit dem Hut steht da und gießt den Steinboden im Treppenhaus
und die Fließen in der Küche.
Ohne Sonnenschein
kann Sophie nichts wachsen lassen,
auch in der Küche nicht.
Und Sophie knurrt
und streckt die Zunge raus
und verschüttet Milch
und Honig.
Und alle seufzen.