Christian Hillengaß

Sarajevo 2014!

Nr 176 | August 2014

Unter den Wartenden des Flugs 700 nach Sarajevo sitzt ein junger Mann, die Haare kurz geschoren, mit langem Bart nach Art der Mullahs. Stumm bewegen sich seine Lippen zu Worten aus einem kleinen Buch, das er vor dem Gesicht hält. Irgendwann zieht er die Schuhe aus, beugt sich zwischen die Sitzreihen und beginnt zu beten. Dann ertönt der Aufruf für den Flug. Er reiht sich in die Schlange vor dem Check-In-Schalter, sein Blick wirkt fern, wie schlafwandelnd passiert er die Passkontrolle und steigt in den Flieger. Wenig später beschleunigt die Maschine und sticht in den Himmel.
Vermutlich sind mehrere Passagiere an Bord muslimisch, wenn auch keiner sonst so auffällt wie der junge Mann. Von den 300.000 Ein­wohnern der Stadt, in die es geht, sind ca. 85 Prozent Muslime. Angeblich zählen sie zu den liberalsten der Welt. Was weißt du über Sarajevo? Zwei Flugstunden von der Stadt entfernt werden auf diese Frage vor allem zwei Dinge genannt: der Bosnienkrieg 1992–95 und das Attentat auf den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand von 1914, das zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs führte. Manche erinnern sich noch an die Olympischen Winterspiele 1984. Mehr und mehr rückt Sarajevo auch durch sein jährliches Filmfestival in die internatio­nale Wahrnehmung – es wurde im Krieg unter provisorischen Um­ständen ins Leben gerufen und hat sich mittlerweile als feste Institution etabliert.

In diesem Sommer, in dem sich das Attentat auf Franz Ferdinand zum hundertsten Mal jährt, blickt die Welt wieder einmal auf die Stadt. Es ist ein Blick zurück – ein Blick auf ein Ereignis, in dem sich der Auftakt zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts im Bild des feuernden Attentäters und des getroffenen Thronfolgers konzentriert. Sarajevo 1914 ist in aller Munde. Aber Sarajevo 2014?
Der Flieger setzt zur Landung an. Auf der anschließenden Fahrt in die Innenstadt scheint sich der Chauffeur alle Mühe zu geben, das Klischee des balkanischen Taxifahrers zu erfüllen. Er rast durch den Berufsverkehr, flucht, vollzieht waghalsige Überholmanöver und verlangt einen Preis, der zweifeln lässt, ob es der offizielle ist. Draußen ziehen Hoch­haussiedlungen vorbei, Betonriesen aus der Zeit des sozialistischen Jugoslawien, die den äußeren Ring der Stadt bilden. An vielen der hohen Fassaden ist der Putz abgesplittert; keine Baufälligkeiten, sondern Granateinschläge aus der Zeit des Krieges. Fast jede Hausfassade in der Innenstadt trägt diese Spuren. «Pockennarben des Krieges» hat sie eine Journalistin einmal passend genannt. An ihnen kann man sehen, dass kein Stadtteil, keine Straße und kein Platz vor den Granaten sicher war. An ihnen lässt sich ein Anklang dessen spüren, was es hieß, hier zu leben, als Sarajevo für Jahre von der Außenwelt abgeschnitten war und tagtäglich unter Beschuss stand. Gut zwanzig Jahre ist es her, dass die Stadt von serbischen Truppen umschlossen und belagert wurde. 1.425 Tage lang – ein Zivilisationsbruch, der für die Einwohner ungefähr so lange dauerte wie für Europa der Erste Weltkrieg. Über 11.000 Menschen wurden in dieser Zeit getötet. Das sind so viele, dass jeder einzelne Buchstabe, jedes Satz- und Leerzeichen dieser Reportage für einen Toten stehen könnte. Im Durchschnitt schlugen 328 Granaten täglich ein. An manchen Stellen, dort, wo Menschen auf Straßen und Plätzen in den Tod gerissen wurden, hat man die Einschlagslöcher im Straßenbelag mit rotem Harz ausgegossen. Viele dieser sogenannten «Rosen von Sarajevo» haben mittlerweile ihre Leuchtkraft verloren, sind im Gedränge der Fuß­gängerzone ausgetreten und schmutzig gelaufen wie zu große Kaugummiflecken.
Die Ferhadija, Sarajevos Einkaufsmeile, ist belebt, die Straßencafés sind voll, die Frauen figur- und modebewusst und alles andere als verschleiert; Smartphones überall. In den Seitenstraßen sitzen alte Frauen an selbst gebauten Ständen und verkaufen Gemüse, Kräuter und Zigaretten; Trödler bieten Zahnbürsten, Kleidung, Bücher und Regenschirme an. Der offizielle Marktplatz ist nur ein paar Schritte weiter. Eher müde und zurückhaltend sitzen die Händler dort hinter ihren bunten Waren. Eine Stimmung, der jede Frische eines üblichen Markttreibens fehlt. Ob es am Schatten liegt, der über dem Ort hängt, seit hier 1994 im Februar und August Granaten in den Markt einschlugen und insgesamt 105 Menschen ums Leben kamen? An einer roten Wand im Hintergrund der Marktstände stehen die Namen der Opfer.

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Fotos: © Janusch Tschech / www.janusch-tschech.com | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Eine Parallelwelt zu den traditionellen Marktständen und den Händlern in den Straßen bilden die drei neuen Megashopping-Center etwas außerhalb der alten Viertel. Vor ihren Stahl- und Glasfassaden mit viel Leuchtreklame rattern Straßenbahne, Baujahr 1962. Drinnen wummert oder säuselt Popmusik, Rolltreppen führen über mehrere Stockwerke durch die Glanzwelten. Wie zu hören ist, kommen die meisten nur zum Schauen und Kaffetrinken her – die Kaufkraft ist gering, bei über 40 Prozent Arbeitslosigkeit, die wenigen Jobs werden oft sehr schlecht und mit viel Verspätung bezahlt.
Eine Besserung der insgesamt schlechten wirtschaftlichen und politischen Lage ist nicht in Sicht. Das Friedensabkommen von Dayton hat zwar den Krieg beendet, aber ein politisches System in Bosnien-Herzegowina etabliert, an dem das Land mehr und mehr zu ersticken droht. Die gleichberechtigte Beteiligung aller Konflikt­parteien hat einen enormen polit-bürokratischen Apparat erschaffen, der einen großen Teil des ohnehin knappen Haushalts verschlingt. Innerhalb dessen hat es sich eine gut bezahlte Politiker­kaste bequem gemacht, die die alten Feindseligkeiten mit anderen Mitteln fortsetzt. Blockade und Stillstand stehen auf der Tages­ordnung, von der enorm verbreiteten Korruption ganz zu schweigen. Die instabile Lage hat zur Folge, dass Bosnien immer noch unter internationaler Beaufsichtigung steht: Die Vereinten Nationen stellen die höchste politische Instanz durch einen Repräsentanten, der umfassende politische Voll­machten hat. Dass dieser Mann mit den meisten zivilen Machtbefugnissen im Staat hundert Jahre nach Regentschaft der Habsburger wieder ein Österreicher ist, liest sich nebenbei wie eine ironische Fußnote der Geschichte.
Auch wenn fast jeder auf die schlechte Lage hinweist – die jungen Menschen, mit denen man in den Cafés und Hochschulen ins Gespräch kommen kann, sind alles andere als resigniert. Im Februar dieses Jahres gab es die ersten großen Demonstrationen seit dem Krieg für eine Besserung der Verhältnisse, manche hofften schon auf einen «bosnischen Frühling». Der Weg zu wirklichen Veränderungen aber ist weit. Dass angesichts dieser Lage und der immer noch nahen Kriegs­vergangenheit weder Verbitterung noch Depression oder Aggressivität die Stimmung in der Stadt bestimmen, ist vielleicht der erstaunlichste Eindruck, der in diesen Tagen hier entsteht – zumindest für einen Außenstehenden, der sie nur für kurze Zeit kennenlernt. Trotzdem lässt sich nicht leugnen, dass hinter so mancher Miene ein Schmerz verschlossen scheint und dass bei einer ernsthaften Annäherung an diese Stadt wohl bei niemandem das Gefühl einer besonderen Melancholie ausbleiben wird.

Man sagt, in Sarajevo treffen Orient und Okzident aufeinander. Nirgendwo wird das so an­schaulich wie am Ende der Ferhadija, wenn plötzlich die mehrstöckige Habsburger Repräsentations­architektur endet und die Straße geradewegs zwischen den gedrungenen Häusern in die muslimische Altstadt rund um die Gazi-Husrev-Beg-Moschee hineinführt. Auf Höhe dieses Übergangs zwischen den beiden Welten, nur ein Stück weiter unten am Fluss führt die Lateinerbrücke über das Wasser der Miljacka. Hier ist die Stelle, wo der Student Gavrilo Princip die tödlichen Schüsse auf Franz Ferdinand und seine Frau Sophie abgab. Wenn man so will, liegt der Schicksalsort – das Epizentrum eines Weltbebens – genau auf der Schnittstelle zwischen Ost und West.
Rund um den hundertsten Jahrestag des Attentats sind hier fast täglich ausländische Kamerateams zu sehen. Die Einheimischen scheinen dagegen weniger Aufhebens um dieses Datum zu machen. Gedenkveranstaltungen werden in erster Linie vom Ausland finanziert. Das Eckhaus, vor dem der Attentäter stand und in dem sich heute ein kleines Museum befindet, steckt beim Besuch in einem Baugerüst. Der müde Museumsangestellte schickt die Gäste wieder weg; es sei nun genug, man schließe um 15 Uhr und habe auch am nächsten Tag geschlossen. Draußen fließt die Miljacka wie eh und je unter den alten Steinbögen hindurch.
Wer weiter nach Osten durch die muslimische Altstadt läuft, findet sich bald auf steilen Sträßchen wieder, die auf die Hänge der Stadt führen. Hier beginnen die muslimischen Friedhöfe, deren schlanke Grabstelen manchmal in kleinen Gruppen zwischen den Häusern stehen oder sich weitläufig über die Hänge erstrecken. Ganze Felder stammen aus dem Krieg.
Oberhalb des Helden­friedhofs von Kovaci ergibt sich ein weiter Blick ins Tal. Die Kirchtürme, Minarette und das Gebäude einer Synagoge, die dort unten auf engem Raum beieinanderstehen, lassen an den Ruf des europäischen Jerusalems denken, der Sarajevo immer noch anhaftet – auch nach dem Krieg, der so manches von dieser Vielfalt zerstörte.

Ein paar junge Mädchen genießen den Blick von hier, sie gehören zur ersten Generation, die den Krieg nicht mehr aus eigenem Erleben kennt. Aufgeweckt und fröhlich erzählen sie von ihrer Stadt, mit der sie sichtlich zufrieden sind.
Unten in den Straßen sind die Bars und Cafés wie jeden Abend gefüllt. Ob das an der Hauptstadtatmosphäre liegt, an der Arbeits­losigkeit, an genereller Ausgehfreudigkeit oder daran, dass Ziga­retten und Alkohol zu den billigsten Konsumgütern gehören, lässt sich schwer sagen. In der Vinarija Topic, einem gediegenen Weinlokal, stehen Musikanten zwischen den Tischen und spielen wehmütige Lieder über Liebe, Sehnsucht, Tod und Leben. Viele der Gäste sind aufgestanden, tanzen mit langsamen Schritten und singen mit. «Das», flüstert eine Kroatin, «sind die alten jugoslawischen Lieder, die alle kennen, egal ob Bosnier, Serben oder Kroaten.» Lauthals und glücklich stimmt sie mit ein.
Der Taxifahrer lässt seinen Wagen ruhig durch die leeren Straßen der morgendlich erleuchteten Stadt rollen. Am Flughafen angekommen verlangt er nur die Hälfte des Preises, den sein Kollege auf der Hinfahrt wollte.
Was weiß man, wenn man sich in die Besonderheiten dieser Stadt eingelesen hat und ein paar Tage lang durch ihre Straßen, ihre Parks, Cafés und Friedhöfe gezogen ist? Ein bisschen. Wenig. Aber man kann intuitiv einen Satz nachvollziehen, den der Literaturnobel­preis­träger Ivo Andric noch lange vor dem letzten Krieg über sie sagte: «Egal zu welcher Tageszeit und von welcher Anhöhe man auf Sarajevo blickt, man wird unwillkürlich immer das Gleiche empfinden: Das ist die Stadt, die in sich zusammenfällt und stirbt und gleichzeitig aufersteht und sich entfaltet.»

Aus dem Flieger leuchtet Sarajevo noch mal aus dem Morgennebel auf. Wer die Stadt so kennengelernt hat, wie sie sich auf diesem mehrtägigen Spaziergang zeigte, der kann ihr nur eines wünschen: das Beste.