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Marijn Backer

Das Jahr der Lügen

Nr 176 | August 2014

gelesen von Simone Lambert

Als Antonia 14 ist, zieht ihr Vater aus dem Haus der Familie aus. Nach Jahren der Täuschung folgt er seiner großen Liebe Alma. Erst anderthalb Jahre später lädt er seine Kinder zu sich nach Griechenland ein. Sie besuchen ihn und stellen fest, dass ihr beruflich erfolgreicher Vater ein Aussteiger geworden ist, der am kretischen Strand in einer Höhle haust. Ungeschickt gibt er den Töchtern zu verstehen, dass er seine Kinder in seiner neuen Situation nicht vermisst.
Die älteren Geschwister, Iris und Max, wenden sich entschieden gegen den Vater. Antonia, auch Toni genannt, die Ich-Erzählerin in diesem Entwicklungsroman, nehmen die Trennung und der Vertrauens­bruch besonders mit. Sie vermisst den Vater und fällt in eine jugend­liche Depression. Sie schwänzt die Schule, verbringt ganze Tage im Bett und träumt von «Nangijala», Astrid Lindgrens Totenreich in Die Brüder Löwenherz. Einzig ihre neue Freundin Eva nennt die Situation vorsichtig beim Namen und versucht ihr zu helfen.
Denn die Familie kann mit Antonias Sensibilität nicht umgehen. Iris und Max ignorieren ihren Zustand und wissen ihre Schwäche für sich auszunutzen. Antonia verliert sich zwischen der zunächst teilnahmslosen Mutter, dem abwesenden Vater und den verständnislosen Geschwistern. Da ist ihr die Aufmerksamkeit recht, die ihr Max und Iris entgegenbringen, als sie ihrer Schwester in perfider Weise nahelegen, den Missbrauch durch Onkel Walter «zuzugeben». Max scheut kein Mittel, um den ungeliebten Onkel und Bruder der Mutter, zu dem diese engen Kontakt hält, aus dem Haus zu treiben.
Antonia gerät in ein Netz von Lügen – nicht nur, weil sie nicht den Mut aufbringt, die Wahrheit zu sagen und den Onkel zu entlasten, sondern vor allem, weil sich die Lügen verselbständigen: Jedes Wort, jede Manier Antonias wird zum Beweis des Miss­brauchs erklärt. Antonia flüchtet zu ihrem Vater nach Basel –?oder vielmehr in Almas Haus. Hier erfährt sie von den Hinter­gründen der Situation. Und von hier aus findet sie zurück zur Wahrheit …
Marijn Backer zeichnet in Das Jahr der Lügen eine Familie in Auflösung, in der keiner mehr seinen Platz kennt. Die Schwächste in dieser Konstellation wird zur Hauptfigur in einem eigennützigen Manöver, das aber auf komplizierte Weise dazu beiträgt, die Situation wieder ins Lot zu bringen: Mit der Rückkehr des Vaters wegen dieses Skandals regulieren sich die Verhältnisse innerhalb der Familie.
Lügen sind Teil des Erwachsenseins. Es gibt Verschwiegenheiten, ausweichende Lügen, Interessenkonflikte, Strategien und Not­lügen – unglückliche, aber menschliche Versuche, eine Situation zu meistern oder in einen Vorteil zu verwandeln.
Wahrheit und Lüge stehen in einem dynamischen Verhältnis. Für die Wahrheit verantwortlich zu sein, bedeutet, sich ihr anzu­nähern. Lügen schmerzen und verletzen, doch sie bewegen auch etwas. Und, einmal von Verdächtigungen befreit, eröffnet sich ein neuer Blick: So verwandelt sich der Vater vom treulosen Familien­oberhaupt in einen Mann, der aufrichtig um seine große Liebe Alma trauert – die alt und dement war.
«Das Jahr der Lügen» ist für Antonia das Jahr, in dem sie erwachsen wird und Selbstvertrauen fasst. Leicht ist es nicht, dieses Jahr …

Wahrheit und Lüge stehen in diesem Roman übers Erwachsenwerden in einem dynamischen Verhältnis. Der Weg zu sich selbst ist meist kein einfacher.