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Arthur Zajonc

Das Innere pflegen

Nr 176 | August 2014

Meditation lehrt uns, das Leben von innen heraus zu erfahren. So wichtig die äußeren Aspekte des Lebens auch sein mögen, hinter der leicht zugänglichen Fassade der Dinge verbirgt sich ein ebenso wichtiger, doch weitgehend stiller Teil der Realität. Die meisten Menschen gehen ganz in den äußeren Pflichten und Freuden des Lebens auf. Beruf und Familie, Reisen und Freizeitaktivitäten füllen den Großteil der Stunden von unserem Tages- und Jahreslauf. Diese verschiedenen Aspekte werden unwillkürlich von außen erlebt, doch zu jeder Außenseite gehört eine Innen­seite, und diese bleibt zumeist unbeachtet. Um das Leben von innen heraus zu betrachten, bedarf es einer bewussten Anstrengung.
Stellen wir uns einmal vor, die halbe Welt ist vor uns verborgen. Eine Hälfte der uns gegenübersitzenden Person haben wir nie schätzen gelernt, den halben Garten mit seinen Düften haben wir nicht wahrgenommen, eine Hälfte unseres eigenen Lebens ist niemals wirklich bemerkt und anerkannt worden. Lassen wir die innere Dimension des Menschen und der Erde unbeachtet, entgeht uns tatsächlich die halbe Welt. Wenn wir uns der Kontemplation zuwenden, dann wenden wir uns der vergessenen Hälfte zu, jener Hälfte der Welt, die geduldig und bescheiden darauf wartet, dass wir ihr unsere Aufmerksamkeit schenken. Während der Rest der Welt sich in höchster Alarmbereitschaft befindet und laut schreiend jede Minute unseres bewussten Lebens für sich beansprucht, warten die ebenso wichtigen inneren Dimensionen des Daseins still und stumm. Wenn es uns unmöglich scheint, Zeit für die Meditation zu finden, können wir uns an diesen Tatbestand erinnern. Nachdem wir so viel Zeit auf die Forderungen der Welt verwenden, könnte es doch angemessen und sogar unverzichtbar sein, der stillen, geduldig auf uns wartenden Hälfte der Welt Zeit zukommen zu lassen. Sollten wir dem Inneren nicht ebenso viel Zeit widmen wie dem Äußeren?
Solche Gedanken erinnern uns daran, dass es eine Quelle gibt für das Gute, das wir tun. Werden wir nicht von den inneren Dimen­sionen des Daseins nachhaltig gestärkt und geleitet? Können wir das Gute wirklich erkennen und tun, wenn wir von der sanften, inneren Quelle der Weisheit und Erneuerung abgeschnitten sind? Wir können uns zwar von äußeren Traditionen leiten lassen, aber liegen die Wurzeln der großen Weisheitstraditionen nicht in eben diesem inneren Reich? Angesichts der zunehmenden Komplexität unserer Welt wächst die Überzeugung in mir, dass wir heute dazu aufgerufen und verpflichtet sind, unsere eigene, ursprüngliche Verbindung zu diesem klar leuchtenden Quell zu suchen, und uns nicht allein auf die Tradition stützen dürfen.
Jedes Mal, wenn ich die 1863 geschriebenen Eingangszeilen von Ralph Waldo Emersons Essay Natur lese, höre ich die Stimme eines Menschen, der uns ernsthaft ersucht, uns selbst den tieferen Dimensionen der Welt zuzuwenden und uns nicht allein auf die Berichte der Vorfahren zu verlassen, so weise sie auch sein mögen. Emerson rät nicht dazu, sich von der Welt abzuwenden oder die Vergangenheit zu vergessen, sondern die Wirklichkeit mit eigenen Augen und in ihrer Ganzheit zu betrachten:
«Warum sollten nicht auch wir aus eigener ursprünglicher Verbindung zum Universum schöpfen dürfen? Warum sollten Philosophie und Dichtung nicht auf unsere eigene Einsicht zurückgehen statt auf Überlieferungen, und warum sollten wir nicht eine Religion haben, die sich uns selbst offenbart und kein alt abgelegtes Zeugnis ist? … Die Sonne scheint auch heute noch. Es gibt mehr Flachs und Wolle auf unseren Feldern.»
Einst mag es genügt haben, treu zu glauben und die Gebote von Kirche und Staat zu befolgen, doch nun müssen wir Flachs und Wolle selbst auf unseren Feldern finden. Die Sonne scheint tatsächlich noch auf uns herab und in unser Inneres hinein, wie einst bei unseren Vorfahren.