Ralf Lilienthal

Das große Interesse am Menschen

Nr 177 | September 2014

Der Experimentalchor «Alte Stimmen»

Eine tönende, klingende Menschenmenge, eine Kakophonie unzusammenhängender Geräusche. Doch manchmal sind da zwei oder drei, die einander finden. Die – lauschend – im allgemeinen Tönen gerade jene Töne hören, die zu ihren eigenen passen und sich mit ihnen – harmonisch, melodisch, vielleicht aber auch in einer aufrüttelnden Dissonanz – verbinden.

Warum nicht ein mythisches Bild bemühen, um einen Sachverhalt realistisch zu schildern? Ein Bild, das in Köln inspiriert wurde – im Stadtteil Mülheim, in der Turnhalle der Gemeinschaftsgrundschule Mülheimer Freiheit, keine fünfzig Meter vom deutschesten aller Flüsse entfernt – das Auge hat die erste Begegnung der Wolfsklasse mit dem Experimentalchor Alte Stimmen gesehen, das Ohr aber hat sie gehört.
Die Konstellation ist spannend. Auf der einen Seite eine Grund­schulklasse neugieriger, für den Anfang noch etwas verhalten-skeptischer Kinder, deren bunte familiäre Wurzeln oft weit über die Grenzen von Stadt, Land und Fluss hinauszureichen scheinen. Auf der anderen Seite mehr als zwei Dutzend Übersiebzigjähriger mit offenen, brückenschlagenden Augen, herzlichem oder zurückhaltendem Lächeln – intelligente, lebenserfahrene Gesichter. Und schließlich die betreuenden Grundschullehrer und jene vier, ohne deren gestaltende Kraft die ganze Szenerie wohl irgendein kaum beachteter «Alltag» bleiben würde.
Dabei fängt auch diese Schulstunde ganz unspektakulär an. Die Jungen und die Alten werden aufgefordert, jeweils als Gruppe und im Wechsel ihre Namen zu sprechen: «Wolfsklasse» – «Alte Stimmen». «Wolfs/klas/se» – «Al/te Stim/men».
Und weil es unisono passiert, wird aus dem gewöhnlichen Sprechen schon mit der ersten Wiederholung eine rhythmische Sentenz, die immer lauter und kraftvoller wird – so lange, bis einer der vier, wie ein Dirigent, mit dem Lauterundleiserwerden zu spielen beginnt. Uralte Rituale klingen hier an, willensbetonte Klangfolgen, die zwischen Sprache und Musik hin- und herschwingen.
Schon jetzt – und mit jeder weiteren Anweisung und Übung immer mehr – verlieren sich die Vorbehalte der Grundschüler, werden nicht wegdiskutiert, sondern weggelacht, weggesungen, weggespielt. Und während der Beobachter zunächst ganz in den Bann der solcherart angeleiteten Akteure gezogen ist, ihr Begegnen und Interagieren neugierig verfolgt, weitet sich seine Aufmerk­samkeit allmählich in Richtung der vier Anleiter selbst.
Zwei Frauen, zwei Männer, samt Klavier, Bassquerflöte, Trommel und Singstimme. Vier Musiker, die, mal alleine, mal einander in wechselnden Konjunktionen assistierend, die jungen und alten Choristen durch den musikalischen Vormittag geleiten. Vier Persönlichkeiten mit je eigenem Portefeuille und einer jeweils ganz unverwechselbar eigenen Art, auf das Geschehen einzu­wirken. Denn jeder von ihnen stimmt einen anderen Ton an, zeigt den Choristen einen anderen Raum im Haus der Musik. Das klingt in einem Moment schwermütig, im anderen zaghaft tastend, dann wieder fröhlich und energisch oder kontemplativ und ist offensichtlich fein aufeinander abgestimmt. Der unvorbereitete Betrachter ahnt die Struktur einer Geschichte und eine kluge Choreographie.

Das Lied des Lebens

Wie kam es zu der Begegnung von Jung und Alt? Wer sind die Musikzauberer? Was ist der Chor der Alten Stimmen? Was hat ihn an die Grundschule im Stadtteil Mülheim geführt? Eine Rückblende ins Jahr 2010: In der Kuratoriumsrunde der Stuttgarter Addy-von-Holtzbrinck-Stiftung stellt der Komponist Bernhard König seine Vorstellungen von musikalischer Kinder- und Jugendarbeit mit geistig Behinderten vor, um dann in einer zaghaften Coda das Interesse der Kuratoren für eine Arbeit mit Übersiebzigjährigen anzufragen. Und tatsächlich – statt, wie zuvor oft, höfliche Ablehnung zu ernten, findet König offene Ohren, nachfassende Neugier und am Ende ein auf drei Jahre angelegtes Budget «mit hoher Gestaltungsfreiheit».
Der Vorschlag, zunächst in ein Hospiz zu gehen, kam vom Kuratorium selbst. Ein Komponist am Sterbebett und die gemeinsame Arbeit am «letzten Lied» – was für eine dramatische Konstellation! Doch wer den nahe Frankfurt gebürtigen, heute siebenundvierzigjährigen Musiker live (oder im Dokumentarfilm Das Lied des Lebens) beobachtet, weiß, dass die Hospizbewohner in gute Hände gegeben waren. «In einer solchen Situation ist es vollkommen uninteressant, was ich für Ideen und geschmackliche Vorlieben habe. Es geht um den anderen. Es ging immer an die Grenzen und ich brauchte mein ganzes Handwerkszeug, alles, was ich konnte, um es in dem Moment der Begeg­nung wieder vergessen zu können!»
Auch die Arbeit im Stuttgarter Seniorenheim Sonnenberg ist intensiv und verlangt dem Komponisten und den von ihm dazu geladenen Musikern ein Höchstmaß an Fantasie und Einfühlungs­vermögen ab. «Dabei kam mir die Exotik der Situation sehr zugute. Jemand, der ins Altenheim geht und sagt: Ich interessiere mich für deine Stimme! Das war so schräg und neu, dass auf einmal vieles möglich wurde!»
Während seine Arbeit mit einzelnen Bewohnern behutsam ist und gelegentlich die intimsten Bereiche berührt, verblüfft Bernhard König die Sonnenberg-Bewohner und Mitarbeiter insbesondere durch ein intensives und inspirierendes Gemeinschafts-Konzert: «In einem solchen Haus werden die Bewohner versorgt und von außen bereichert. Plötzlich waren die gewohnten Verhältnisse umgekehrt: ‹So habe ich unsere Leute noch nie gesehen›, hieß es immer wieder respektvoll und ehrlich verblüfft!»

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Fotos: © Wolfgang Schmidt | www.wolfgang-schmidt-foto.de | Durch die Bildergalerie geht's per Klick auf die Klammern

Während die Begegnungen im Hospiz und im Sonnenberg sich im kleineren, institutionellen Rahmen bewegten, war, als drittes Element der musikalischen Arbeit mit älteren Menschen, die Gründung eines Experimentalchors der Alten Stimmen ein Schritt ins helle (Rampen-)Licht der Öffentlichkeit. Spätestens hier zeigte sich, wie gut geflochten Bernhard Königs Musiker-Netzwerk bereits zu diesem Zeitpunkt war. «Die Alten Stimmen waren von Anfang an als Teamwork konzipiert. Als wir Köln als Standort für den Chor ausgeguckt hatten, hielten wir es für klug, uns mit Troisdorf als Alternative abzusichern.» Dort nämlich wirkte seit Jahren Brigitte Rauscher, eine mit sieben (!) Chören bedingungslos der Chormusik verschriebene Kantorin, die auf einen großen Pool neugieriger älterer Sänger zurückgreifen konnte, selber allem Neuen leidenschaftlich aufgeschlossen war und, als kooperierende Alte Stimmen-Chor­leiterin, bis heute der gemeinsamen Arbeit verbunden blieb.
Und Köln? Würden überhaupt die im Minimum nötigen zwei Dutzend Übersiebzigjährigen dem Aufruf folgen und sich auf das Experiment einlassen? «Ich habe die kleine Anzeige im Stadtanzeiger morgens beim Frühstück gelesen und gewusst: Das ist es!» So und ähnlich haben an diesem Tag fast einhundertfünfzig Menschen gedacht, bevor sie zum Hörer griffen und sich für ein Projekt mit ungewissem Ausgang angemeldet haben. Was für ein umwerfendes Echo!
«Wir mussten die Teilnehmerzahl anfangs auf 100 begrenzen, mehr passten einfach nicht ins Foyer der Kölner Philharmonie. Und wir konnten, was die musikalischen Inhalte angeht, ohne Schonzeit kompromisslos starten.» Recht bald kristallisierte sich die bis heute etwa konstante Zahl von gut fünfzig Frauen und Männern heraus, die in dem Experimentalchor eine neue Heimat gefunden haben.

Abenteuerreise

Wer da alles kam? «Sicher gibt es viele erfahrene Chorsänger unter uns, zum Teil aus den besten Chören! Aber eigentlich darf jeder mitkrächzen – und Noten lesen, das kann man lernen!» Zum Beispiel bei Ortrud Kegel, neben Bernhard König und der Jazzsängerin und Gesangspädagogin Alexandra Naumann eine der drei Gründungspersönlichkeiten aus den Kölner Anfangsjahren. An der Kölner Musikhochschule – dem biographischen Treff-Ort des Trios – klassisch ausgebildet als Flötistin, hat es die heute Vierundfünfzigjährige sehr früh zur Neuen Musik, zu Improvisation und Experiment gezogen. «Ich bin bei den Alten Stimmen vor allem für die Klang­experimente zuständig. Und für die Improvisationen. Allerdings: allzu durchgeplant darf man sich unsere Arbeit ohnehin nicht vorstellen. Anfangs hat der Chor immer wieder etwas beunruhigt gefragt: ‹Was machen wir denn damit?› – ‹ Was wird am Ende daraus?› Das hat viel mit Vertrauen (und Erfahrung!) zu tun – den Raum zu öffnen, Intensität aufzubauen. Es kommt dann ganz sicher etwas Gutes dabei heraus!»
Nicht zuletzt deshalb, weil, wie die siebenundvierzigjährige Alexandra Naumann mit Nachdruck bemerkt, «es nicht egal ist, ob der Ton schief ist. Daran muss man arbeiten. Überhaupt ist uns allen wichtig, dass wir am Ende auf der Bühne stehen werden und dem Ganzen diesen Rahmen geben.» So ist die in der deutschen Jazzszene bekannte Sängerin insbesondere für die Stimmbildung der Choristen zuständig. Doch sie weist darüber hinaus auf den anderen, ebenso wesentlichen Aspekt ihrer Arbeit hin: «Uns alle verbindet das große Interesse am Menschen. Wir haben sehr viel Respekt vor seiner Einzigartigkeit, seinen ungeheuren Aus­drucksmöglichkeiten. In diesem Sinne ist jeder Mensch ein Werk für sich!»

Und wie «klingt» die Zusammenarbeit?

«Die Alten Stimmen geben dir eine gigantische Energie. Sie haben so viel Lust und Kreativität!» – «Was unsere Chorleiter auszeichnet, ist Empathie und Achtsamkeit!» – «Sie haben die ungewöhnliche Fähigkeit, sich auf alles Neue einzulassen – als Saad zum ersten Mal die orientalischen Klänge seiner Heimat in den Chor brachte, dauerte es keine halbe Stunde, bis der Funke übergesprungen war!» Saad Thamir, vor einundvierzig Jahren im Irak geboren, als Komponist und Musiker geschult im Orient und Okzident und seit einem Jahr der Vierte im kreativen Bunde, bringt es so auf den Punkt: «Wenn die Musiker auf der Bühne begeistert sind von dem, was sie machen, wenn sie daran glauben, dann klingt es, egal ob man mit Profis oder Amateuren arbeitet!»
Der Experimentalchor Alte Stimmen: «Ein Ort, an dem Menschen zusammenkommen, die einander sonst nicht begegnet wären und die sich auf eine Abenteuerreise begeben, deren Route unbekannt ist!»