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Christel Mouchard

Das Geheimnis der Jadefigur

Nr 177 | September 2014

gelesen von Simone Lambert

Wenn Christel Mouchard in ihrem Jugendroman Das Geheimnis der Jadefigur ihre junge Heldin Nina im Jahre 1912 in die französische Kolonie Indochina reisen lässt, wird daraus ein Abenteuerroman, aber auch der dezente Versuch, ein dunkles Kapitel der Geschichte Frankreichs aufzuarbeiten.
Die fünfzehnjährige Halbwaise Nina reist allein zu ihrem Vater, den sie seit drei Jahren nicht gesehen hat. Noch während der Überfahrt erreicht das Mädchen die Nachricht von seinem Tod. Sie steht an der Wand, als sie sich entscheidet, sich auf eigene Füße zu stellen und als junge, volljährige Frau und Erbin aufzutreten, um den Platz ihres Vaters einzunehmen. In Hué gerät sie dann in Ereignisse von politischer Tragweite …
Nina fühlt sich in der Villa Henriette, dem bescheidenen Haus ihres Vaters auf dem Anwesen der reichen chinesischen Familie Teng, schnell zuhause. Die Menschen allerdings geben ihr noch Rätsel auf: da sind der attraktive junge Hausherr Teng Wenji, der sie charmant und respektvoll umwirbt, ohne dass sie sicher ist, ob sie ihm trauen kann. Und da ist auch die etwa gleichaltrige Tam, Tochter der Dienstboten ihres Vaters. Tam, Kind armer Eltern, ein Mädchen zudem und Vietnamesin, hat es dreifach schwer, ihren Traum von einem Chemiestudium zu verwirklichen. Mehr als einmal wird Tam, wütend über die soziale Ungerechtigkeit,
in Versuchung kommen, sich unrechtmäßig zu bereichern – und dieser Versuchung jedes Mal widerstehen. Ninas Gönner­haftigkeit, ihre Lässigkeit und Wichtigtuerei, vor allem ihre Lügen stehen Tams Ehrgeiz, Ernst, Pragmatismus und Temperament entgegen. In einer Schlüsselszene des Buches steht die genesende Nina am chinesischen Neujahrsmorgen entblößt vor Tam: ein Sinnbild der Ehrlichkeit, Grundlage ihrer neuen Freund­schaft.
Aufgrund der Vorzugsstellung ihres Vaters als Künstler wird Nina zum Neujahrsfest am kaiserlichen Hof eingeladen. Die Königin vertraut den Mädchen ihre Pläne an: sie verkauft Kunstschätze, um Geld für einen Aufstand gegen die Franzosen zu sammeln. Erstmals ist Nina mit Politik konfrontiert. Sie begreift, dass ihr Vater in den illegalen Kunsthandel verwickelt war und kann sich nun das Interesse des dubiosen Professor Morton an der Villa Henriette erklären: es muss etwas mit der unermesslich wertvollen Figur aus weißer Jade zu tun haben, die die Königin vermisst …
Mouchard verknüpft Ninas Schicksal mit den Geschicken des Koloniallands auf eine tief symbolische Weise. Die Jadefigur stellt Kwan Yin dar, Göttin des Mitgefühls, deren Geste und Bedeutung jener der Jungfrau Maria ähnelt, von der Nina eine Figur besitzt. Diese figurale Ähnlichkeit verehrungswürdiger Frauengestalten so verschiedener Kulturkreise spielt auch auf Ninas Sehnsucht nach Mütterlichkeit und Heimat an. Doch die Königin, die Kwan Yin so gleicht – die «… mächtigste von allen ist eine getriebene Rebellin.» Wird Nina, die nach Verbundenheit und Freundschaft sucht, die neu gewonnene Heimat gleich wieder verlieren?
Spannend, humorvoll und exotisch erzählt dieser Adoleszenz­roman, ohne aber die Verzweiflung des grausam regierten Landes nicht wenigstens anzudeuten. Nina hofft auf die Rückkehr des Medizinstudenten Wenji in vier Jahren, doch 1916 wird auch das Jahr sein, in dem das von den Franzosen als Kaiser inthronisierte Kind einen Aufstand gegen die Besatzer anführen wird …

Ein sympathischer, lesenswerter Roman über eine junge Rebellin, die ihre Schritte in die Welt wagt.