Jörg Ewertowski

Der Mensch als Autor, Erzähler und Held seines Lebens

Nr 178 | Oktober 2014

Im Alter von sechs Jahren verletzte sich die Pianistin Hélène Grimauld auf einem abgelegenen Strand Korsikas an einer Glasscherbe und musste genäht werden. Weil der Landarzt kein entsprechendes Mittel zur Hand hatte, musste das ohne Betäubung geschehen. Das Erlebnis sollte ihr Leben grundlegend verändern: «Ich erinnere mich, dass ich nicht litt. Ganz im Gegenteil, ich war begeistert ... Es war eine starke, aber unabhängige Lust, die nicht von etwas außerhalb meiner ausgelöst wurde, sondern in mir, von mir, die von einem Teil meines Körpers ausging. Es war eine Lust an der äußersten Grenze zum Schmerz. Und diese Lust hatte mich in einen eigenartigen, ich würde sogar sagen überaus befriedigenden Bann geschlagen.» Sie begann, verklärt zu lächeln, und die Eltern und der Arzt betrachteten sie besorgt. «Ich begriff, dass dieses Lächeln ihnen Angst machte. Ich fing mich wieder, verzog das Gesicht und tat so, als würde ich die Zähne zusammenbeißen.»
Die Sechsjährige hat von der verbotenen Frucht der Lust, der Täuschung und der ersten Selbsterkenntnis gegessen und sich damit viel tiefer und bleibender von ihren Eltern abgegrenzt als durch alle vorangegangenen Trotzanfälle. Von nun an hatte sie ein Ge­heimnis. – Wenn sie aber im Alter von 35 Jahren in ihrer Autobio­grafie Wolfssonate* von diesem Geschehnis erzählt, dann macht sie das Gegenteil dessen, was sie damals tat: Als Erzählerin ihres Lebens veröffentlicht sie, was sie als Heldin des Geschehens damals zu verbergen suchte.
Bei dem griechischen Philosophen Plutarch (45 – 125) lesen wir, dass der reife Mann zugrunde geht, wenn der Greis entsteht, dass zuvor der Jüngling in den reifen Mann aufgegangen ist, der Knabe in den Jüngling und in den Knaben zuvor der Säugling: «Der Gestrige ist in den Heutigen gestorben, der Heutige stirbt in den Morgigen.»
Was Plutarch sucht, ist das ewige, unveränderliche Sein – und das findet er nicht im Menschen. Nur Apollo kommt das wahre Sein zu. Deshalb grüßten ihn die Mysterienschüler in Delphi mit der Formel: «Du bist.»
Später haben dann die christlichen Philosophen im Menschen selbst das Unwandelbare und Unvergängliche als unsterbliche Persön­lichkeit angesetzt. Heute aber zweifeln mehr und mehr Menschen daran, dass es hinter allen Wandlungen, die sich innerhalb des Lebens mit ihnen ereignen, tatsächlich ein bleibendes Selbst gibt. Entsprechend sind immer weniger dazu bereit, ein langfristiges Versprechen zu geben. Weiß ich heute, wer ich in zehn Jahren sein werde?
Gemeinsam ist allen diesen Positionen die stillschweigende An­nahme, dass Zeit bloße Vergänglichkeit ist. Wenn ich aber in der Erinnerung als der Held meines Lebens vor mich selbst trete und zum Erzähler werde, dann öffne ich im Erzählen Räume von Zeit. Ich spanne einen erlebbaren Beziehungsbogen zwischen dem, der ich jetzt bin und dem, der ich war, und erst dadurch werde ich wirklich zu dem, der ich bin. Die Zeit begründet mein Selbstsein.

Hélène Grimauld ist aber nun nicht mit der Erzählerin ihrer Auto­biografie identisch. Sie gestaltet als Autorin sich als Erzählerin. Unmittelbar achten wir beim Lesen auf den Helden einer Erzählung und darauf, was ihm widerfährt. Dann erwachen wir zum Bewusstsein für die Beziehung zwischen dem Erzähler und seinem Helden. Und wenn wir nochmals erwachen, dann nehmen wir den Autor in den Blick. Bei einem Roman ist die Unter­scheidung zwischen Autor und Erzähler einfacher zu verstehen als bei einer Autobiografie, aber grundsätzlich ist hier kein Unterschied: Nicht David Copperfiel hat das gleichnamige Buch veröffentlicht, sondern Charles Dickens. Wenn wir solche Bücher lesen, geben wir uns nicht nur einer Unterhaltung hin. Erst unbewusst und dann auch bewusst beginnen wir die Erfahrungen, die wir im Dreieck von Autor, Erzähler und Held machen, auf unser Leben zu übertragen.
Wir alle, auch wenn wir keine Autobiografie schreiben, sind nicht nur der Held und der Erzähler unseres Lebens, sondern auch dessen Autor. Darunter verstehe ich jetzt, dass wir noch auf einer anderen Ebene unser Leben gestalten, als auf der unmittelbaren Handlungsebene des Helden. Als der Autor unseres Lebens sind wir der, der uns womöglich in Situationen führt, die uns als Held widrig und schmerzhaft begegnen. Als Autor unseres Lebens haben wir vielleicht das eine oder andere Geschehnis unseres Lebens gesucht oder entworfen, das wir als Held bekämpfen und mit dem wir uns dann im Rückblick des Erzählers vielleicht versöhnen. Wir entdecken als Erzähler vielleicht, was sich ganz unvorhergesehen aus dem Schmerz doch rückblickend an Gutem ergeben hat. Das ist sicherlich nicht immer so, aber immer wieder.
So betrachtet gewinnt der Begriff «Schicksal» neue Bedeutung. Wir dürfen diese Bedeutung freilich nicht zu einem totalitären Kreis schließen, innerhalb dessen alle Geschehnisse «so sein mussten».
Der Autor des Lebens ist ebensowenig der eigentliche Mensch wie der Erzähler oder der Held des Lebens. Darin liegt die Bedeutung dieser Übertragung aus der Literatur auf unser Selbstverständnis. Bei einer solchen Übertragung, bei einem metaphorischen Umgang mit Begriffen, weiten wir unser Bewusstsein über das unmittelbare «richtig» oder «falsch» hinaus. Wir sehen dann anders als zuvor.
Ein Autor ohne Held wäre ohnmächtig, ein Held ohne Erzähler wäre bewusstlos und ohne den Autor gäbe es weder Held noch Erzähler. Wenn wir uns als Held und Erzähler mit dem Autor unseres Lebens einfach identifizieren würden, wären wir dem Größenwahn verfallen. Und schließlich brauchen wir über diese Dreiheit hinaus noch andere Menschen.
Der «eigentliche Mensch» ist die innere Beziehung zwischen den genannten drei Instanzen seines Lebens, und er steht in Beziehung zu unzähligen anderen Menschen, die ebenfalls als Autoren, Helden und Erzähler ihrer Leben sind. In dieses Bewusstsein für unsere eigene Lebensgeschichte und die unserer Mitmenschen üben wir uns ein, wenn wir einen guten Roman nicht allein mit Blick auf die Abenteuer des Helden lesen. Dann betrachten wir anschließend auch die Geschichten, die sich im Lebensalltag immer wieder zutragen, mit einem ganz neuen Blick und fangen an, sie nicht bloß zu berichten, sondern wirklich zu erzählen.