Peter N. Waage

Das freie moderne Individuum und der Totalitarismus

Nr 180 | Dezember 2014

Das moderne Selbstverständnis des Menschen hat lange und komplizierte Wurzeln. Eine der Voraussetzungen für die Auf­fassung vom Menschen als einem frei handelnden, selbstständigen Individuum ist das Gefühl, auf eigenen Beinen zu stehen, losgelöst und entfremdet von der übrigen Welt. Ob das tatsächlich der Fall ist, steht auf einem anderen Blatt. Die Vorstellung hat sich jedenfalls seit der Renaissance zunehmend konkretisiert.
Der Konterpart des Individuums, der Totalitarismus, zeigte sich in seiner ersten Gestalt bei den Hexen- und Ketzer­prozessen. Zu seiner vollen Blüte kam er Jahrhunderte später, als das Ideal vom selbstständigen Individuum bereits erkannt und philosophisch fundiert war und als die materiellen, technischen und gesellschaft­lichen Voraussetzungen zu dessen Verwirklichung gegeben waren, zu­mindest für einen Teil der Bevölkerung Europas und Amerikas.
Die Kulturgeschichte liest sich demnach entweder als Geschichte der Entwicklung des Totalitarismus oder als Geschichte der Ent­stehung des selbstständigen Individuums: Die Hauptpersonen sind häufig dieselben, die Triebkräfte identisch und die Formu­lierungen ähnlich.
Der Totalitarismus appelliert an die Zugehörigkeit des Einzelnen zu einer Gemeinschaft. Niemand kann auf eigene Faust ein Individuum werden. Der Totalitarismus hebt Identitäts­merkmale hervor, die jeder Mensch mit anderen gemeinsam hat wie Klasse, Geschlecht, Nationalität. Diese sind auch für das Individuum wichtig. Ohne sie würde ich weniger sein als ein Nichts – ein unförmiger Klumpen ohne Grenzen zu oder Gemein­sam­keiten mit anderen. Der Totalitarismus stellt den Staat über den Einzelnen – aber weder eine Gesellschaft noch selbstständig sich entfaltende Individuen sind möglich ohne einen Staat, der Gebiet und Rechte garantiert. Der Totalitarismus, das totalitäre Denken sind reduktionistisch; der Mensch wird als ein «nichts anderes als …» angesehen. Damit erscheint er als ein Kind der Wissen­schaft. In ihrer mechanistischen Variante hat auch sie den Reduktio­nis­mus als Methode. Aber die Wissenschaft und das wissenschaft­liche Denken sind wiederum entscheidende Voraus­setzungen für das Auftreten und die Entfaltung des Individuums. Ja, sie sind in verschiedener Hinsicht Ausdruck für die Aktivität des Individuums. Dort bin ich selbstständig erkennend, unabhängig und zeitweise im Widerspruch zu religiösen und anderen Traditionen.

Allerdings appelliert der Totalitarismus auch an das religiöse Be­dürfnis des Menschen. Seine Vertreter besitzen größere psycho­logische Einsicht als viele Verfechter der Demokratie. Letztere glauben zu leicht, dass der Mensch zufrieden ist, wenn seine materiellen Bedürfnisse befriedigt werden. Erstere wissen, dass der Mensch zusätzlich noch etwas anderes sucht: einen Sinn und das Erleben von Zugehörigkeit. Das zu bieten, dafür sorgen die Diktatoren der Welten, allerdings auf Kosten der Freiheit des Einzelnen. Deshalb bekommen sie Anhänger: «Wir dürfen nicht vergessen, dass Lenin, Stalin und Hitler von den Massen gewollt und geliebt waren», schreibt der bulgarische Schriftsteller und Wissenschaftler Tzvetan Todorov.
Bei all diesen Schnittstellen unterscheidet sich der Totalitarismus in einem wesentlichen Punkt von dem Selbstverständnis, wie es das freie Individuum kennzeichnet: die Beachtung eines Selbst, das Er­kennen eines Selbst – und damit das Erscheinen des Anderen. Wichtig ist nicht, dass ich ein bestimmtes Geschlecht oder eine bestimmte Nationalität habe; wichtig ist auch nicht, dass ich der Bewohner eines bestimmten Staates bin oder mich zu genau dieser Wahrheit oder religiösen Überzeugung bekenne oder ob ich einen Sinn finde in einer fertig ausgearbeiteten und angebotenen Existenz. Wichtig ist vielmehr, dass ich weiß, dass ich all das mache – und folglich erkenne, dass es möglich wäre, etwas anderes zu tun, dass ich oder du einer anderen Nation, einem anderen Staat angehören, eine andere Überzeugung haben könnten. Wenn der Akzent von dem, was ich habe oder bin, zu mir selbst hin verschoben wird, als dem, der ist, oder dem, der hat, eröffnet sich die Möglichkeit, dass man auch auf andere Weise sein und andere Überzeugungen haben kann. Ich werde auf mich selbst aufmerksam und respektiere dich.
Das vorige Jahrhundert demonstrierte sowohl den Totalitarismus in all seinem Grauen, aber auch, wie die Menschlichkeit durch individuelle Handlungen und Mut bewahrt werden kann.

Das Wissen, dass wir heute in einer offenen, einer liberalen Gesellschaft leben, die beansprucht, jedem Einzelnen alle Möglichkeiten zu bieten, und in der es kaum Grenzen gibt für die Entfaltung und Darstellung des Individuums, liefert noch keine Garantie gegen neue Formen des Totalitarismus. Im Gegenteil, die liberale Gesellschaft trägt den Keim für eine andere, nicht geringere Bedrohung des Individuums in sich, als es der klassische Totalitarismus war.
Der liberale Standpunkt hat einen Wert ganz oben in der Wertehierarchie: Freiheit. An sich ein leerer Begriff. Jeder muss seine Freiheit mit einem eigenen Inhalt füllen, wie es die Ideale des ethischen Individualismus beanspruchen. Aber damit geraten wir in einen Selbstwiderspruch. Wir werden autoritär. Wir wissen nämlich selbst am besten, was liberal und folglich gut ist und was illiberal und folglich böse ist, und erheben uns zum obersten Richter. Unser Standpunkt wird zum obersten Standpunkt erklärt, wird zum Maßstab, an dem alles andere gemessen werden kann. Dieses Dilemma hat die liberalen Ideale seit ihrem ersten Erscheinen verfolgt, seit der Ruf nach Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in Paris erschallte. Es dauerte nicht lange und der «unbestechliche Robespierre» setzte die Guillotine ein, um Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit zu verwirklichen.
Die absolute Selbstüberschätzung und Rechtschaffenheit sind es, die das Individuum in die Flucht schlagen. Sie sind es, die unsere Augen vor den anderen verschließen. Wenn wir jedoch bereit sind, auch von den anderen etwas zu lernen, wenn wir folglich versuchen, mit den anderen in Dialog zu treten, sie zu respektieren und ihren Standpunkt zu sehen – und nicht zuletzt die Möglichkeit zulassen, selbst irren zu können und Fehler zu machen –, dann kann uns das Dilemma Einsicht und Verständnis bringen für uns selbst und die anderen.